-- Moonlight of Darkness --
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 Wolf's Rain 2

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BeitragThema: KAPITEL 18   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:31 pm

Als Kawa Lains reglosen Körper sah, wollte sie vorschnellen und den Kreis durchbrechen, aber sie wurde sofort wieder zurückgeschleudert und prallte gegen Taiin, der mit ihr zu Boden ging. Rasch rappelten sie sich wieder auf und verharrten angespannt, als die schwarzen Wölfe zur Seite wichen.
In den Kreis der sich duckenden Wölfe trat mit langsamen, bedächtigen Schritten Darcia. Ein langer, schwarzer Mantel wehte schwer um seinen hochgewachsenen Körper und bauschte sich im Zugwind. Seine Wölfe winselten und senkten demütig den Kopf, mit einem Mal ganz still. Ein kaltes, berechnendes Lächeln erschien auf seinen Zügen.
„Schön, dich wiederzusehen“, flüsterte er, und Kibas Kiefer zitterten unter seiner hämischen Stimme. „Wie geht’s Cheza?“
Kiba ballte die Fäuste und versuchte, ruhig zu bleiben. Er hatte nicht damit gerechnet, Darcia so schnell wieder gegenüberzustehen, und nun tobten Furcht und Hass in ihm um die Wette. Sein Blick fuhr hektisch durch die Halle, aber er fand keinen Weg hinaus. Der Kreis der bedrohlich aufge­türmten Wölfe schnitt ihnen jede Fluchtmöglichkeit ab, und als vom Eingang her mit einem Mal ein dumpfes Rattern erklang, zuckte der Wolf zusammen. Es war das Tor, dessen Flügel sich mit quälender Langsamkeit schlossen. Kibas Kopf fuhr herum und er starrte Darcia an, mit einem Mal völlig frei von jeglicher Angst.
„Was willst du von Lain?“, zischte Kawa und fuhr sich über die Stirn, an der ein schmaler Riss klaffte. „Sie hat dir nichts getan.“
Darcia wandte den Kopf und blickte die Wölfin an. Leise Überraschung lag in seinen schillernden Augen, die sich aber schnell wieder legte. „Dich kenne ich nicht“, sagte er leise, und sein Blick wanderte über die anderen Wölfe, bis er auf Taiin hängen blieb. „Und dich auch nicht ...“ Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem kalten, freudlosen Grinsen, das wie die blanke Zahnreihe eines Totenschädels auf seinen Zügen lag.
„Lass sie gehen!“ Kiba trat einen Schritt vor und stellte sich hoch aufgerichtet vor Darcia. Ihre Blicke trafen sich in der dunklen Luft und flackerten vor Hass.
„Ich denke nicht daran“, entgegnete Darcia leise, und obwohl seine Augen in einem gefährlichen Licht schimmerten, klang seine Stimme vollkommen entspannt, nahezu belustigt. Mit der Hand fuhr er sich durch das lange dunkle Haar. „Aber ich bin dir dankbar, dass du gekommen bist.“ Auch Darcia trat einen Schritt vor und mit einem Mal kauerte dort, wo eben noch der düstere Mann gestanden hatte, ein riesiger, dunkelbrauner Wolf, dessen Fänge gefährlich schimmerten.
Von einem Augenblick auf den nächsten wirbelten beide Wölfe durch den Staub und jagten mit fliegenden Klauen und schnappenden Kiefern um ihre Achse. Die anderen standen einen Atemzug lang wie gebannt und starrten entsetzt auf das blutige Rasen, das vor ihren Augen schreiend sein mordendes Maul öffnete. Aber schon im nächsten Moment löste sich die Starre und beide Rudel gingen mit der brachialen Gewalt eines instinktiven Hasses aufeinander los. Krallen wühlten in dampfendem Fell, Fänge zerfetzten Flanken und Läufe, und gellendes Geschrei aus einem Dutzend rauer Kehlen hallte in dem triefenden Gemäuer wider. Dunkle Flecken sprenkelten das Fell der Wölfe und hinterließen schaurige Rinnsale an den klammen Wänden. Wie lange der Kampf dauerte, hätten sie hinterher nicht mehr sagen können. Im kalten, unwirklichen Dunkel der Halle schien die Zeit stillzustehen.
Mit einem mächtigen Satz sprang Kawa an an ihrem Gegner vorbei und rannte in gestrecktem Lauf, so schnell sie konnte, auf den Lichtkegel in der Mitte der Halle zu. Hinter ihr hörte sie heiseres Hecheln und das wilde Trommeln von Pfoten, aber die Wölfin hatte nur Augen für Lain, die im diffusen Licht hilflos, ja fast zerbrechlich wirkte. Kaum einen Sprung von ihr entfernt, spürte Kawa plötzlich einen gleißenden Schmerz in ihrem Nacken. Die Wölfin wurde durch die Luft geschleu­dert und prallte mit einem dumpfen Keuchen gegen ein Kontrollpult, dessen zersplitterte Scheiben über den ganzen Boden verstreut lagen und sich in ihre Flanke bohrten. Bevor Kawa noch reagieren konnte, wuchs über ihr ein Schatten aus dem Dunkel empor und warf den Kopf in den Nacken, um ihr schwungvoll seine Kiefer ins Fleisch zu stoßen. Aber er kam nicht dazu. Mit einem bellenden Husten ging der Wolf zu Boden, und ein kleinerer, aber nicht minder kräftiger Schatten fuhr über ihn hinweg, dicht gefolgt von einem zweiten, helleren. Kawa zögerte nicht lange und fegte über den Staub zu Lain hinüber, während Tsume und Hanpaku auf den Wolf losgingen und ihn für einige wertvolle Augenblicke ablenkten. Kawa sprang neben Lain, hob sie in ihre Arme und rannte so schnell, wie es ihr als Mensch möglich war, auf die verschlossenen Flügel des Tors zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Darcia, der mit Kiba in einem selbstmörderischen Kampf spielte, sich mit einem Mal von dem weißen Wolf abwandte und mit ein, zwei riesigen Sätzen auf Kawa zuraste. Sie presste Lain enger an ihren Körper und rannte, dass ihr der Atem blutig aus den Lungen stieß, und tatsächlich fiel Darcia zurück. Im Laufen blickte Kawa zurück und sah, wie alle Wölfe zu­sammen auf ihn losgingen und ihn zu Boden zwangen. Aber schon waren Darcias Wölfe über ihnen und das blutige Chaos begann von vorne. Vorsichtig lehnte Kawa Lain gegen die Mauer und suchte verzweifelt nach einem Hebel oder einem Mechanismus, mit der sie das Tor öffnen könnte, aber da war nichts. Sie saßen in der Falle.
Plötzlich erklang hoch über ihren Köpfen ein klagendes, schrilles Quietschen. Kawa blickte in das Dunkel hinauf und konnte auf den stählernen Querstreben, die die Decke hielten, eine Gestalt aus­machen, die mit aller Kraft auf die rostigen, altersschwachen Rohre und Förderbänder einschlug. Knarrend und jaulend lösten sich Schrauben und Halterungen, flogen Stahlnetze prasselnd zu Bo­den und schlugen mächtige Stahltrosse zischend gegen die Mauern, aus denen Staub und Mörtel wirbelte. Die Wölfe verharrten und rührten sich nicht. Dann brach mit einem leisen, knarrenden Seufzen alles in sich zusammen. Schwere, klobige Rohre, rostig blitzende Pumpen und peitschende Stahlseile regneten in einer Wolke aus Metallsplittern vom Dach herab und verschütteten die Wölfe in einer dicken Wolke aus Schutt und Stahlfetzen. Noch eine ganze Weile prasselte grober Schutt von der Decke und begrub alles unter sich.
Als sich der Staub gelegt hatte, öffnete Tsume die tränenden Augen und hob benebelt den Kopf. Seine Hinterläufe lagen unter einem zerbrochenen Rohr verklemmt, das ihm empfindlich in die Sehnen schnitt. Langsam zog der Wolf die Läufe unter der messerscharfen Kante hervor und biss die Zähne zusammen, als der zerrissene Stahl Fell und Fleisch zerschnitt. Dann war er frei und sprang mit einem Satz von dem Schuttberg herunter. In der ganzen Halle verstreut lagen zer­sprungene Streben und verbogener Schrott, und irgendwo darunter waren die anderen Wölfe begra­ben. Tsume senkte den Kopf. Der Anblick erinnerte ihn an das, was in seiner Jugend passiert war ... Als er sie im Stich gelassen hatte ... Der Wolf biss die Kiefer aufeinander. Lichtblitze geisterten vor seinen Augen, riefen Bilder voller Blut und Tod hervor, von leblosen Körpern und schreienden Kugeln – und mittendrin er selber, auf fliegenden Pfoten und leeren Gedanken. Tsume schüttelte den Kopf. Er konnte diese Bilder nicht gebrauchen.
Aus dem Schatten trat eine einsame Gestalt und starrte ihn an. Er wandte den Kopf und erkannte Hige, der sich schmerzverzerrt die Hand hielt. Tsume trat zu ihm hin.
„Was besseres ist dir nicht eingefallen?“, fuhr er ihn an, besann sich dann aber und lauschte in die Stille hinein, die drückend über der Halle lag. Wieder tauchten diese Bilder aus dem Dunkel auf ... Aber er verdrängte sie und konzentrierte sich auf das leise Rascheln, das unter einem der Rohre neben dem Tor erklang. Rasch machten sich die beiden Wölfe daran, die Rohre und Metallplatten zur Seite zu wuchten, und gemeinsam zogen sie Kawa aus dem Schutthaufen heraus. Als die Wölfin benommen die Augen öffnete und die beiden über sich sah, zuckte sie im ersten Moment zusam­men, fasste sich dann aber und senkte den Kopf, damit sie den plötzlichen Anflug von schlechtem Gewissen nicht in ihren Augen lesen konnten. Sie musste schlucken, wandte sich dann wortlos um und befreite die immer noch bewusstlose Lain aus dem Schutt. Tsume und Hige blickten sich kurz an, zuckten dann aber mit den Schultern und suchten in den Trümmern nach den anderen. So entging ihnen, dass Kawa zögerlich den Kopf wandte und über ihre Schulter zu ihnen herüber blickte. Sie verbarg den Kopf in ihren Händen – und konnte es doch nicht verdrängen.
Kurze Zeit später stahlen sich die Wölfe, einer hinter dem anderen, aus dem Gebäude heraus. An der anderen Seite der Halle hatten sie eine Bruchstelle im porösen Gemäuer gefunden, groß genug, um sich als Wolf hindurch zwängen zu können. Auf Pfoten, in denen die Angst saß, flüchteten sie aus der toten Gegend und empfanden dabei nichts als Schrecken. Dass sie heil davon gekommen waren, glich in ihren rasenden Herzen einem Wunder. Doch sie wussten auch, dass sie nicht wieder zu ihrem Versteck zurück konnten. Obwohl sich unter den Trümmern nichts mehr geregt hatte, als sie aus der Halle geflüchtet waren, konnte keiner der Wölfe so recht glauben, dass Darcia tot war. Ihre Augen und ihr Verstand sagten es ihnen, aber ihr Herz pumpte ihnen mit jedem Schlag die Ge­wissheit ins Blut, dass doch noch etwas im Dunkel gelauert und sie beobachtet hatte, mit gierigen, schillernden Augen, in denen ein tiefverwurzelter Hass brannte.
Und so merkten sie auch nicht, dass sich unter dem Grab aus Schienen und Platten tatsächlich etwas regte – wie die Schnauzen geisterhafter Schemen langsam aus den Trümmern brachen, sich in einer Totenstille erhoben und die Spuren ihrer Furcht in der dunklen Luft spürten. Auf Darcias Lippen erschien ein selbstzufriedenes Grinsen, als er auf den schlaffen Körper in seinen Armen sah, auf das blasse blaue Kleid und die blonden Strähnen, die auf der schweißglänzenden Stirn des Mädchens klebten. Sie hatten den Köder geschluckt. Und Lain gehörte immer noch ihm.
Darcia hob den Kopf und blickte in das diffuse Licht des Kegels hinauf, und der eisige Geruch der kalten Sonne lag in der Luft. Nicht mehr lange.
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BeitragThema: KAPITEL 19   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:32 pm

Leise wie der stetig fallende Schnee setzten die Wölfe über die Ebene, wieder weg von der Stadt, hinein in das blasse Leuchten am abendlichen Horizont. Kages Hufschlag und das leise Hecheln ihrer Wolfskehlen flog mit ihnen durch den Frost und die Kälte ihrer Herzen.
„Wartet mal ... Ich kann nicht mehr“, klang von hinten plötzlich Toboes schwache Stimme, und die Wölfe verlangsamten ihren Schritt. Kawa wendete ihre Stute und hielt das Pferd neben Toboe an.
„Kage kann dich auch noch tragen“, meinte sie und streckte einladend die Hand aus. Toboe schielte unsicher zu Kiba hinüber, ergriff ihre Hand dann aber und zog sich erleichtert hinter der Wölfin auf den breiten Pferderücken hinauf. Vor sich hielt Kawa die immer noch bewusstlose Lain um­klammert, damit sie in Kages schnellem Galopp nicht vom Rücken des Pferdes fiel.
Müde fuhr Toboe über seine Augen und hielt sich am Sattel fest, da die Wölfe schon weiter wollten, als Hige plötzlich innehielt. Einige Meter von ihnen entfernt starrte er gebannt auf die hartgefrorene Erde zu seinen Füßen. Das Rudel kam langsam nach, und als Kiba neben Hige trat, ging er vor ihm in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über den steinharten Boden. Die Eiskristalle zwischen den Krallen der Pfotenabdrücke vor ihnen schimmerten im Dunkeln. Die Spur kreuzte den Weg, den sie genommen hatten, und führte in die Richtung, in der das zerstörte Labor liegen musste. Kiba hob den Kopf und sah die anderen an.
„Die Fährten sind noch nicht alt“, sagte er, und seine Stimme klang zum ersten Mal nervös. Er erhob sich und trat einen Schritt zurück. Sein Blick folgte den Spuren in die Nacht hinein und fiel auf Hige, der immer noch angespannt auf die Abdrücke starrte.
„Hige?“, fragte Kiba verständnislos und wollte schon neben ihn treten, als der Wolf aus seiner Starre erwachte und einige Schritte in die Richtung ging, in der die Spuren verliefen. Kiba runzelte die Stirn, und auch die anderen sahen Hige mit einem fragenden Ausdruck an. Toboe sprang von Kages Rücken herab, trat neben ihn und zog ihn am Ärmel seines Hemdes, aber Hige reagierte kaum. Sein Blick schien mit den Fährten verwachsen zu sein. Der Geruch war ihm wieder in die Nase gestiegen. Der Duft der schwarzen Hündin. Erst vor kurzem war sie hier vorbeigekommen. Der Geruch ihres schillernden Fells hing immer noch in der kalten Luft ... und füllte sie auf eigen­artige Weise mit Wärme.
„Sie war hier“, murmelte er und starrte weiter in die untergehende Sonne, dorthin, wo der Horizont in den fernen Wäldern verschwamm.
„Wer war hier?“, knurrte Tsume und starrte Hige genervt an, die Arme vor der Brust verschränkt. Der kalte Wind pfiff über seine Schultern und ließ ihn schaudern. Es wurde Zeit, dass sie einen Unterschlupf fanden.
„Blue“, flüsterte Hige, und der Name floss so leicht über seine Lippen, dass sein Herz schneller schlug. Er kannte ihren Namen. Er konnte sich wieder an ihn erinnern. Hige schloss die Augen und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was dieser Name ihm sagen sollte. Noch war da nicht viel, nur ein unbestimmtes, flehendes Ziehen in seiner Brust, das ihn drängte, den Spuren zu folgen und sie einzuholen. Der Wolf wandte sich zum Rudel um und blickte in die Runde. Als er Kibas Blick kreuzte, konnte er die Anspannung in seinen Augen lesen.
„Blue?“, echote der weiße Wolf und starrte Hige eindringlich an. „Bist du dir sicher?“
Hige nickte nur. „Blue war die Hündin, mit der ich am Labor gekämpft habe.“ Wieder wandte er den Kopf und blickte dem Lauf der Spuren hinterher. Sie führten in die hoffnunslose, eisige Nacht hinaus, die leicht zu einer spiegelglatten Gefahr werden konnte. Aber das musste er riskieren.
„Geht ihr weiter. Ich werde euch schon finden“, murmelte Hige und wollte sich schon abwenden, da packte Toboe seinen Arm und hielt ihn zurück.
„Wo willst du denn hin? Da hinaus?“ In seiner Stimme schwang Ungläubigkeit mit. Der Junge schüttelte den Kopf und blickte die anderen hilfesuchend an. „Woher wollen wir wissen, dass das keine Falle ist?“
Hige ließ den Arm sinken, worauf Toboe ihn losließ, aber immer noch nicht den Weg freigab. „Nun komm, Kleiner, lass mich vorbei“, brummte Hige und musste lächeln. „Es ist Blue. Erinnerst du dich an sie?“
Toboe wurde unter seinem Blick kleinlaut und schüttelte den Kopf.
„Ich muss sie finden“, sagte Hige leise, und aus seinen Worten klang eine große Sehnsucht heraus, wie er zum fahlen Horizont blickte. Toboe senkte den Kopf und trat wortlos zur Seite. Hige nickte den anderen zu, dann rannte der Wolf auf fliegenden Pfoten den Fährten entlang und dem düsteren Dämmerlicht entgegen. Die anderen sahen im schweigend hinterher.
„Wie will er uns denn wiederfinden?“, murmelte Toboe, und traurig blickte er dem Wolf nach, der schon nicht mehr als ein heller Fleck in der dunklen Nacht war. Er bekam keine Antwort. Dann wandte sich das Rudel ab und folgte seinem Weg, hinauf in die Hochebenen, über denen schon die Lichter der Nacht im schwarzen Firmament funkelten.
Schließlich fand das Rudel doch noch einen Unterschlupf, eine niedrige Höhle, die der harsche Schnee schon weiß umhüllt hatte. Zitternd krochen die Wölfe in das warme Dunkel des Baus und rückten enger zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Langsam stieg schmelzendes Eis von ihrem Rückenfell auf und bildete rauchige Dampfwolken, die durch die Höhle krochen und eine wohlige Wärme verbreiteten. Eine zufriedene Stille breitete sich aus. Den Wölfen war nicht nach Reden, sie genossen einfach die Gegenwart der anderen und das prickelnde Gefühl, als die Kälte aus ihren steifen Körpern wich. Einen nach dem anderen überrannte die Müdigkeit und die An­spannung der letzten Tage, sodass bald alle Wölfe eng aneinander gekuschelt in einen tiefen, er­schöpften Schlaf fielen.

Als die Wölfe wieder erwachten, war es bereits später Nachmittag, und die Sonne hing windschief am kalten Himmel. Sie krochen aus der behaglichen Wärme der Höhle hinaus und fanden sich überrascht in einer schier endlosen, weiß glitzernden Wüste wieder. Während des Tages hatte es geschneit, und was gestern noch brache, fruchtlose Erde gewesen war, hatte sich binnen weniger Stunden in eine strahlende Schneedecke verwandelt. Das scharfe Brennen des Eises weckte trotz der strengen Kälte die Lebenslust in den Pfoten der Wölfe, und für einen kurzen Moment konnten sie vergessen, was passiert war. Ausgelassen tobten sie durch den Schnee, spritzten Eisfontänen auf und balgten sich fröhlich jaulend im kalten Weiß. Im Verband spürten sie die Fährten von Hasen auf und verbrachten die Stunden mit der mühevollen Jagd nach den kleinen, flinken Tieren, die ihnen hakenschlagend immer wieder entwischten. Am Abend fanden sie sich alle wieder bei der Höhle ein und ruhten sich von der anstrengenden Hasenhatz aus. Sie hatten beschlossen, hier auf Hige zu warten. Im Moment konnten sie ohnehin nicht weiterziehen, da der Schnee ihre Fährten ausradiert hatte und Hige erst wieder zu ihnen stoßen musste, bevor sie weiter konnten, andernfalls würde er sie wirklich nicht mehr wiederfinden. So oder so waren sich alle nicht mehr so sicher, wohin sie nun eigentlich wollten. Ihre Instinkte schrien den Wölfen zu, schleunigst das Weite zu suchen und Darcia zu vergessen, während ihr Gewissen ihnen einredete, wieder zurückzukehren, um Lain zu retten. Um Darcia zu bekämpfen. Und ihn zu besiegen.
„Woher hast du eigentlich diese Narbe?“, kam Toboes helle Stimme von hinten, und Tsume wandte sich um. Der Junge kauerte hinter ihm in der Hocke im Schnee und blickte ihn neugierig an. Tsume runzelte unwillig die Stirn. „Was geht dich das an?“, knurrte er abweisend und drehte den Kopf de­monstrativ weg. Da sah er aus den Augenwinkeln, wie Kawa den Blick abwandte. Die Bewegung war zu hastig. Tsume hob den Kopf und blickte die Wölfin schweigend an. Im Lauf der letzten Tage war er aus ihrem Verhalten nicht schlau geworden. Es schien ihm, als wüsste sie nicht genau, wie sie mit ihm umgehen müsste. Irgendetwas war da immer in ihrem Blick. Eine Art unterdrückter, trauriger Zorn – auf der einen Seite. Aber dann lag da auch etwas in ihren grauen Augen, das ihn stutzig werden ließ. Das ihn an jemanden erinnerte. Tsume senkte den Kopf und verschränkte die Arme vor den Knien. Es war unmöglich, und das wusste er. Die grauen Augen, die er in Kawas Blick zu sehen glaubte, waren schon lange tot. Aber wieso hatte er dann stets dieses irritierende Gefühl, sie wiederzuerkennen?
„Jetzt sag schon“, bettelte Toboe weiter und hockte sich neben Tsume in den Schnee, den Blick staunend auf das vernarbte Gewebe gerichtet. Tsume musste an sich halten, um den jungen Wolf nicht in den Schnee zu stoßen. Stattdessen presste er die Kiefer aufeinander und wünschte sich, diese ganzen Gedanken an damals vergessen zu können.
Mit einem leisen Rascheln ihrer Kleider erhob Kawa sich, stand für einen kurzen Moment vor den Wölfen, als wäre sie nicht sicher, was sie nun tun sollte, und entfernte sich dann wortlos. Das leise Knarren ihrer Schritte klang durch die Stille des Abends, bis sie sich einige Meter weiter niederließ. Die Wölfe schauten ihr etwas irritiert hinterher, bis Kiba sich aufrichtete und zu ihr hinübergehen wollte. Aber als Kawa seine Schritte hörte, kam sie wieder auf die Beine und schüttelte nur den Kopf.
„Nein, Kiba. Bitte, ich muss allein sein“, sagte sie, und der raue Klang, der in ihrer Stimme mit­schwang, ließ Kiba innehalten. „Tut mir Leid“, murmelte die Wölfin, bevor sie sich umwandte und mit hängenden Schultern hinter dem nächsten schneebedeckten Hang verschwand. Kiba spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken und zuckte mit den Schultern. Er konnte sich keinen Reim auf das seltsame Verhalten der Wölfin machen, das sie bisweilen an den Tag legte. Aber er führte es auf das zurück, was mit Lain passiert war, die immer noch bewusstlos in Decken eingehüllt im Inneren der warmen Höhle lag. Jedenfalls mit dem Mädchen, von dem er dachte, dass es Lain sei.
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BeitragThema: KAPITEL 19 - Teil 2   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:32 pm

Unterdessen war Hige den ganzen Tag lang den Spuren im Schnee gefolgt, die ihn zu einem einsamen Gehöft geführt hatten, das wie verloren in der riesigen Weite wirkte. Nun war es Abend geworden, und die Sonne stand in ihrer kalten Pracht am späten Himmel. Der Wolf verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich stehen, starr und reglos wie eine Statue, aber mit angespannten Sinnen. Der Hof in der Senke vor ihm bestand aus einem kleinen, zweistöckigen Haupthaus, an das sich langgestreckte Viehställe und eine baufällige Scheune reihten, die von großen, leergefegten Weideflächen und brachen Feldern umgeben waren. Eigentlich hätten die typischen Laute eines Farmbetriebes zu Hige herüber schallen müssen ... Aber da war nichts. Eine beklemmende Stille lag über der Ebene. Die Ställe waren leer, und Hige wollte nicht wissen, was mit den Tieren passiert war.
Der Wolf wunderte es, dass hier draußen noch jemand einen Betrieb aufgebaut hatte, fernab der Stadt, aber immerhin wusste er nun, wo er die Hündin finden würde. Blue. Immer wieder rief er sich ihren Namen ins Gedächtnis, fast schon stolz darauf, ihn wieder zu kennen. Ein Bindeglied, das ihn mit seinem früheren Leben verband. Seinem anderen, wie Kiba gesagt hatte.
Raschen Schrittes, aber immer darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen, trabte der Wolf mit an die Weidezäune heran und schlich sich an den morschen Holzpflöcken entlang auf die Gebäude zu. Die Fährten verliefen parallel zu ihm und führten in direkter Linie zu dem einzigen Gebäude, in dem noch Licht brannte. Das Wohnhaus. Hige folgte den Spuren und schlich sich bis auf wenige Meter an das Gebäude heran, mit jedem Schritt langsamer werdend. Er wollte nicht riskieren, ent­deckt zu werden. Aber der Drang, Blues Spuren zu folgen, war größer als seine Vorsicht. Lautlos schnürte er zu einem der Fenster, in denen Spinnen ihre silbernen Netze gebaut hatten, und legte die Pfoten auf das morsche Fensterbrett, um ins Innere des Hauses hinein spähen zu können. Durch den Schleier aus Spinnennetzen und Staub konnte er das warme, flackernde Leuchten eines Kamin­feuers an den dunklen Wänden zucken sehen und einen kleinen Jungen, der seine Hände mit einem seligen Lächeln auf den Lippen im dichten Brustfell einer nachtschwarzen Hündin vergrub. Higes Herz tat einen Sprung. Da stand sie, umringt von Menschen, die er nicht kannte, und benahm sich wie ein verspielter Welpe, wedelte fröhlich mit der buschigen Rute, und stupste den kleinen Jungen freundschaftlich in die Seite, als würde sie ihn schon ewig kennen. Hige musste schlucken. Er hatte vieles erwartet, aber sicher nicht, dass Blue sich verhielt, als wäre sie ein willenloser Hund. Er legte den Kopf schief. Fast schien es ihm, als wäre sie sich nicht einmal bewusst, dass sie ein Wolf war ... Und als solcher nichts mit den Menschen zu tun haben durfte. Verwirrt legte Hige die Schnauze auf seine Pfoten und beobachtete jede Bewegung der Hündin. Der Wölfin, wie Hige sich wieder ins Gedächtnis rief. Dabei wusste er es selbst nicht genau. Seine Instinkte sahen in ihr eine Wölfin, seine Augen einen verspielten Hund, und sein Gefühl ... sprach von beidem. Er schnaufte frustriert und presste seine Schnauze an die Scheibe, die unter seinem heißen Atem beschlug.
Da wandte der Junge den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. Higes erste Reaktion war Flucht. Aber etwas in dem fröhlichen Lachen, das die Züge des Jungen erhellte, hielt ihn zurück und beschwor ihn, seine Instinkte zu unterdrücken. Mit ausgestrecktem Arm deutete das Kind auf das Fenster. Durch die Scheibe konnte Hige seine Worte nicht verstehen, aber schon traten zwei Menschen neben den Jungen, seine Eltern, wie er vermutete, und ihre Blicke folgten seinem Winken. Aber Hige hatte kaum Augen für die Menschen. Sein Blick hing an Blue, die den Wolf ebenfalls bemerkt hatte – und in ihm den Feind erkannte, der ihr beim Labor beinah entwischt war. Ein zorniges Knurren drang aus ihrer Kehle, und der verspielte, scheinbar harmlose Hund von eben verwandelte sich in eine blitzende Zahnreihe, die hinter der Fensterscheibe auf Hige zustürmte. Im ersten Moment war Hige wie perplex und unfähig, sich zu rühren. Alles, was er sah, waren die schnappenden Kiefer, die durch das Glas nach seinem Blut schrien, bis der Mann, wohl der Vater des Jungen, die tobende Hündin am Nackenfell packte und zurückzerrte. Hige schüttelte den Kopf und ließ sich vom Fensterbrett in den Schnee fallen. Er lehnte sich gegen die eisig kalte Mauer des Hauses und ließ den Kopf hängen, während drinnen das wütende Bellen langsam verstummte. War das noch Blue? Wenn er Erinnerungen an sie hatte, dann sicher nicht diese. Sollte er sich geirrt haben? Oder, so kam dem Wolf der Gedanke, konnte Blue sich auch nicht mehr erinnern, wer sie wirklich war, und hielt ihn für ihren Erzfeind, den Wolf, ohne zu wissen, dass sie selber einer war?
Hige musste blinzeln. Seit wann wusste er eigentlich, dass Blue Wolfsblut besaß? Bisher hatte er sie immer nur als Hündin gesehen ... Aber Kiba hatte es nie erwähnt. Und obwohl sein erstes Wieder­sehen mit der Wölfin anders verlaufen war, als er es sich gewünscht hätte, war er doch stolz auf sich. Seine Erinnerungen kehrten tatsächlich zurück. Und nicht, weil Kiba sie ihm vorgekaut hatte, sondern, weil er es selber war, der langsam wieder zu sich zurückfand.
Während Hige noch im Schatten des Gemäuers kauerte, ging plötzlich die Tür an der anderen Seite des Hauses auf, und schwere, aber vorsichtige Schritte näherten sich ihm. Hige sprang auf und trabte ein paar Meter vom Fenster fort, als der Mann, der Blue gerade beruhigt hatte, um die Ecke kam. Misstrauisch beäugte der Wolf die ärmlich gekleidete Gestalt, aber da er keine Waffen oder ähnliches in den Händen des Mannes erkennen konnte, entspannte er sich bald wieder. Der Mensch blickte ihn an, und kein Wort kam über seine spröden Lippen, aber ein warmes Lächeln erschien auf den unrasierten Zügen, und Hige senkte den Schweif, den er warnend erhoben getragen hatte. Darauf trat der Mann einige Schritte beiseite und deutete dem Wolf mit einem Nicken an, ihm zu folgen. Ohne sich zu vergewissern, ob Hige nachkam, verschwand er anschließend hinter der Mauer, und Hige stand wieder allein da. Aber die Tür war nicht zugefallen, also stand sie immer noch offen. Genauso wie es ihm offenstand, dem Mann ins Innere des Hauses zu folgen, oder nicht. Higes Blick wanderte zu dem warmen Schimmer des Kaminfeuers, das zitternd durch die Fensterscheiben des Hauses fiel und einladend über den weißen Schnee hüpfte. Erst jetzt merkte Hige, wie kalt ihm war. Die vielen Stunden in der eisigen Winternacht hatten ihn bis auf die Knochen durchfroren. Aber nicht nur die Aussicht auf ein wärmendes Feuer trieb ihn schließlich an, dem Mann zu folgen. Blue war dort. Oder das, was von ihr noch übrig war. Hige setzte sich in Bewegung und strich um die Mauer, ein wohliges Kribbeln unter dem Pelz.
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BeitragThema: KAPITEL 20   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:33 pm

Kawa träumte. Im Traum, durch den sie rannte, zuckten ihre Läufe, und die pelzigen Ohren spielten unruhig im Dunkel der Höhle. Die anderen Wölfe lagen um sie herum und schliefen friedlich, ihr Atem leise und ruhig, doch für Kawa waren sie so weit entfernt, dass die Schreie in ihrer Kehle verstummten. Sie träumte ... Und rannte durch eine Dunkelheit, die ihr schwärzer schien als die Panik in ihrem Herzen. Etwas war hinter ihr, über ihr, hing an ihren Fersen und zog sie in das bo­denlose, ohnmächtige Dunkel hinein, in den gefräßigen Schlund ihrer vergessenen Ängste, in das, was sie vor Jahren verdrängt hatte ...
Plötzlich war sie wieder eine Jungwölfin, und rannte, dass ihr der Atem blutig aus den Lungen schoss, den Tod auf ihren Fersen. Um sie herum zischten grelle Lichtblitze durch die Luft, die das Dunkel in einem gespenstischen Grün erhellten. Ein tiefes, rhythmisches Pochen klang durch die Nacht und raste über ihren Kopf hinweg, gefolgt von unzähligen panischen Schreien.
„Rennt! Rennt um euer Leben!“, rief eine Stimme, und das ganze Rudel stob auseinander. Neben ihr jagte ein anderer Wolf daher, und in seinen hellen Augen konnte sie die nackte Furcht lesen. Trotzdem - es war gut zu wissen, dass er bei ihr war. Es gab ihr Hoffnung.
„Da drüben“, knurrte er im Rennen, und seine Stimme klang gepresst, als er auf eine kleine Nische im Dunkel zurannte, die ihnen Schutz versprach. An seiner Seite klaffte eine lange Wunde, die das graue Fell des Wolfs bereits dunkel färbte.
Hinter ihnen brach einer der fliehenden Wölfe zusammen. Getroffen von den wirbelnden Licht­blitzen fiel er einfach in sich zusammen, das blutige Fell zerfetzt und dampfend. Die beiden Jungwölfe erreichten das Versteck und pressten sich im schützenden Dunkel eng aneinander. Kawa vergrub ihre Schnauze in seinem dichten Fell. Ihr Rudel wurde abgeschlachtet, und sie konnten nichts tun. Sie mussten alles mit ansehen.
Schließlich lagen alle elf Wölfe, die mit ihnen in die Falle gelaufen waren, tot in der blutgetränkten, aufgerissenen Erde. Das spröde, geknickte Gras schillerte in dunkelroten Lachen. Ein grauenhafter Gestank nach versengtem Fell und metallischem Blut hing schwer in der Luft und machte das Atmen fast unmöglich.
„Komm, weg hier!“, grollte der Jungwolf neben ihm, seine Stimme von Grauen gepackt, und drängte sie aus der Nische heraus, aber sie reagierte kaum. Zornig starrte er sie an, und seine Nackenkrause stellte sich warnend auf. Sie mussten fliehen. „Mitsuke!“
Die Wölfin schüttelte sich, als wäre sie aus einem bösen Traum erwacht, aber kaum war sie wieder in der Gegenwart, musste sie feststellen, dass sie nur von einem Albtraum in den nächsten gerutscht war. Ohne lange nachzudenken, setzte hinter dem anderen her. Da ertönte ein langsames, gedehntes Zischen, und vor ihnen stieg eine undurchdringliche Wolke aus blutgetränktem Staub auf, der ihnen die Sicht nahm. Ein grauenhafter Schmerz durchschoss ihren Körper, und für einen Moment wurde ihr schwarz vor den Augen.
„Renn, Mitsuke, renn bloß!“, schrie der Graue verzweifelt, aber die junge Wölfin kam nicht mehr auf die Beine. Ihre Läufe waren blutbefleckt, die Sehnen und Krallen durch die gleißende Hitze des Strahls geschmolzen, und in ihren Augen kämpften ein bodenloser Schmerz mit grenzenloser Furcht um die Wette. Sie konnte nicht mehr weiter. Und sie wussten es beide.
„Sie haben mich“, wimmerte sie und biss sich voller Schmerz auf die Zunge. Ihre Schultern waren nur noch zerfetztes Fleisch, und das Licht vor ihren Augen verschwamm zu einem diffusen Schatten, der sich über sie beugte.
„Lass mich nicht allein“, stolperten ihr die Worte über die aufgerissenen Lefzen, und blind streckte sie ihre Schnauze nach seiner Berührung aus. Aber mit einem Mal wich der Schatten vor ihren trüben Augen zurück. Der furchtbare Lärm der wirbelnden Lichter kam wieder näher. Kawa winselte und fing an, fürchterlich zu zittern. Ihre geschmolzenen Krallen fegten unkontrolliert über den Boden und rissen Erde und Wurzeln auf. Die Wärme seines grauen Fells war verschwunden, und der Schatten fort. Er war geflohen. Er hatte sie im Stich gelassen.
„Nein!“, entfuhr es ihrer gepeinigten Kehle. „Tsume!“
Dann wurde alles schwarz vor ihr ... Und Kawa kam wieder zu sich, mit zitternden Läufen und einem pochenden Herzen, das ihr den Brustkorb zu sprengen schien. Nur langsam wurde sie sich bewusst, dass der Schrecken nur ein Traum gewesen war, aber diese Erkenntnis machte es für die Wölfin nicht besser. Wimmernd legte sie den Kopf auf die Pfoten und kauerte sich zitternd zu­sammen. Obwohl all das nun schon Jahre zurücklag, wurde sie immer noch von ihren Erinnerungen gepeinigt, die sie nachts heimsuchten und den Schrecken wieder heraufbeschworen, der ihr damals ihr Rudel genommen hatte. Ihre Familie.
Kawa atmete tief durch und hob schließlich den Kopf. Vom Ausgang der Höhle her drang das zag-hafte Licht des frühen Morgens herein und vertrieb die Starre aus ihren Läufen. Langsam erhob sie sich und trottete leise auf den Ausgang des Baus zu, um die anderen nicht zu wecken. Zögernd wandte sie sich um und ließ ihren Blick über die friedlich schlafenden Wölfe gleiten. Ihre Augen streiften Tsume ... Und alles in ihr versteifte sich. Sie musste an sich halten, um nicht wutentbrannt ihre Zähne zu fletschen. Schnell flüchtete sie sich in die klirrend kalte Morgenluft hinaus, die ihr die Furcht und den Zorn aus dem Herzen verbannte, nicht aber die Erinnerung.
Kawa fing an zu laufen. Eine ganze Weile trabte sie so dahin, einfach nur geradeaus, mitten hinein in das blitzende Weiß, das sich überall erstreckte und sie in einen Mantel des Schweigens hüllte. Ihre Gedanken waren wie ausgelöscht, und alles, was sie noch empfand, war ein Gefühl der Er­leichterung, wie sie so mit dem kalten Wind um die Nase durch den Morgen rannte und ihrem Traum entfloh. Irgendwann wurden ihre Pfoten langsamer und führten sie unbewusst zu der ver­trockneten Leiche einer alten Kiefer, deren brüchiger Stamm eines Tages gesplittert war und den Baum unter der morschen Last seines Alters zu Boden geworfen hatte. Gemächlich trottete die Wölfin auf den eisüberzogenen Stamm zu und ließ sich in seinem grauen Schatten nieder. Grau. Ihre ganzen Gedanken drehten sich um die Farbe Grau. Kawa kauerte sich zusammen, die Arme vor den Knien verschränkt, den Kopf auf die Unterarme gelegt. Sie wollte nichts sehen, wollte nichts hören, nichts denken. Aber sie kamen wie von selbst, die Gedanken, schlichen sich auf heimlichen Pfaden in ihr Herz und wisperten mit dunklen, geheimen Stimmen.
Mitsuke. Wann hatte sie ihren wahren Namen zum letzten Mal gehört? Es war so lange her .... Seitdem hatte sie so gut es ging vermieden, an ihn zu denken. Selbst in all den Träumen zuvor, die sie nachts heimgesucht hatten, war sie niemals Mitsuke gewesen. Stets nur Kawa. Aber nun war alles anders. Der Wolf aus ihrem Traum ... Sie hatte ihn wiedergefunden, und das, obwohl sie sich gewünscht hatte, ihm nie wieder begegnen zu müssen. Der Zufall war schon immer unberechenbar gewesen.
Kawa hob den Kopf und legte ihr Kinn auf die Arme. Immer geradeaus blickend starrte die Wölfin in das endlose Weiß hinaus, das seinen bedrückenden Mantel der Einsamkeit enger um ihre Schultern schnürte. Sie schauderte, und alles in ihr verzog sich vor Schmerz. Wieso hatte sie Tsume über den Weg laufen müssen? Warum? Sie war darauf nicht vorbereitet gewesen. Als sie dem fremden Wolf im Käfig gegenüber gesessen hatte, war da etwas an ihm gewesen, dass ihr Krämpfe durch den Körper gejagt hatte. Und als sie dann seinen Namen gehört hatte, war etwas in ihr zusam­mengestürzt. Er hatte ihr Rudel verraten, als er geflohen war. Hatte sich aus der Gefahr gestohlen wie ein feiger Schakal. Und hatte sie im Stich gelassen. Kawa knurrte, als sie an das denken musste, was danach passiert war. Wie könnte sie es je vergessen. Sie wäre damals fast gestorben. Immer wieder hatte sich gewünscht, sie wäre es wirklich. Um all dem Elend zu entgehen, das in den Wochen und Monaten danach gefolgt war.
Die Narbe zwischen ihren Schulterblättern fing wieder an, unangenehm zu pochen. Sie war die einzige Wunde, die sie äußerlich noch an das Massaker erinnerte. Die Wunden in ihrem Inneren aber waren immer noch nicht richtig verheilt gewesen. Und nun waren sie wieder aufgerissen. Leise pfiff der Wind über die Ebene und tauchte die Schönheit der weißen Decke aus Schnee in eine endlose Kälte.
Was damals passiert war ... Langsam fuhr Kawa sich durch das lange braune Haar, das ihr lose über die Schultern fielen. Sie hatte ihr Rudel verlassen, sobald sie wieder laufen konnte. Alles, was von ihrer Familie, ihrer Heimat übrig geblieben war, erinnerte sie zu sehr an Tod und Verrat. Sie hatte diese Last nicht mehr aushalten können. Ihre Eltern waren umgekommen. Ihre Freunde. Ihr Rudel. Nur vier Wölfe hatten das Massaker überlebt. Darunter ihr Bruder, der sie damals gerade noch rechtzeitig gekommen war, um sie vor den tödlichen Lichtgeschossen zu retten. Wie sie später er­fuhr, hatte er Tsume noch in jener Nacht aus dem Verband verstoßen. Er hatte nicht lange gezögert. Sie hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit gehabt ... Kawa senkte den Kopf. Aber was hätte das auch geändert?
Die Wölfin wusste nicht, was sie tun, nicht einmal, was sie denken sollte. Sie war hilflos. Tsume ge­genüber ... Und auch sich selbst und ihren Gefühlen. Sie hatte ihm hinterher getrauert, anfangs, bis diese Trauer über seinen Verlust schon kurze Zeit später in Verbitterung und dann sehr plötzlich in Verachtung umgeschlagen war. Kawa hatte ihm nie verzeihen können, dass er geflohen war. Sie hatte ihm vertraut. Hätte für ihn gekämpft. Und nun wusste die Wölfin nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Anfangs hätte sie ihn am liebsten bekämpft. Alles in ihr hatte danach geschrien, ihm an die Kehle zu gehen für seine Feigheit. Aber es würde das Geschehene nicht rückgängig machen. Und außerdem ... könnte sie es nicht. Jahrelang hatte Kawa sich im Geiste ausgemalt, was sie tun würde, sollte sie Tsume eines Tages wiederfinden. Aber nun musste sie sich eingestehen, dass sie nie dazu fähig gewesen wäre, mit ihm zu kämpfen – geschweige denn, ihn zu töten. Allein dafür hätte sie sich am liebsten selbst zerrissen.
Kawa riss sich zusammen und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste Lain retten. Allein dafür war sie an die Wölfen gebunden. Sie hatte Ashi ihr Versprechen gegeben – dem Mädchen durfte nichts geschehen. Und dann war da noch Darcia. Der Lain entführt und sie alle an­gegriffen hatte. Er war eine Bedrohung, und sie musste den anderen helfen, ihn zu besiegen. Aber bis es soweit war, konnte die Wölfin nicht mit ihrer Lüge weiterleben. Sie war nicht Kawa. Ihr Rudel wäre damals beinah ausgelöscht worden. Sie lebte mit Wölfen zusammen, unter denen einer war, für den sie nichts als Wut und Verwirrung empfand. Wie hatte sie das verschweigen können ... Die Wölfin hob den Kopf. Sie wollte, musste Kawa abstreifen. Unter Kawa schlummerte irgendwo immer noch Mitsuke.
Mit einem Mal erhob sie sich und schüttelte sich den Schnee vom Mantel. Zeit, Mitsuke wieder auszugraben.
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BeitragThema: KAPITEL 21   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:33 pm

Kaum stand Hige in der Schwelle der Tür, richtete Blue sich wieder auf und stürmte auf ihn zu, die Fänge drohend gebleckt. Im ersten Moment wollte Hige zurückweichen, aber mit einem Mal stieg die Wut in ihm hoch und er zeigte seinerseits die Zähne. Die Wölfin stutze und zog mitten im Sprung die Läufe an, sodass sie den Halt verlor und vor Higes Pfoten jaulend über den staubigen Boden schlitterte. Damit hatte sie nicht gerechnet, und es kränkte sie. Aber schon im nächsten Au­genblick war sie wieder auf den Beinen und sprang rasch zurück, in ihrem Stolz verletzt, und zog sich grollend zum Kaminfeuer zurück, die Ohren beleidigt angelegt. Hige musste innerlich grinsen und schaute sich neugierig im Inneren des Hauses um. Von innen war der Raum noch kleiner, als er von außen wirkte. Gerade einmal ein runder Tisch mit drei Stühlen, eine kleine Kochecke und der Kamin, der sein rotes Licht im Zimmer versprühte, fanden zwischen den schmalen, niedrigen Mauern Platz. Die verblichenen Wände erdrückten die Enge des Raumes unter ihrer Farblosigkeit.
Da spürte Hige kleine Kinderfinger, die ihm tief in den Pelz griffen und durchs Fell fuhren. Er wandte den Kopf und blickte mitten in das fröhliche Gesicht des Jungen, der sich lachend über seinen Rücken beugte. Einen Moment lang wusste der Wolf nicht, wie er reagieren sollte, aber als er das helle Lachen in den Kinderaugen sah, senkte er nur den Kopf und ließ es geschehen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Blue zu ihm herüber schaute und stillschweigend zusah, wie er das unbe­holfene Streicheln des Jungen über sich ergehen ließ. Die Mutter des Kindes hatte sich am Tisch niedergelassen und schaute ihrem Kind lächelnd zu, während der Mann, der Hige eingelassen hatte, neben Blue am Kamin lehnte und seine Augen nicht von dem Wolf ließ. Zwar sah er in ihm nicht mehr als einen übergroßen Hund, aber auf seltsame Weise kam ihm das Tier bekannt vor. Ratlos fuhr er sich über das breite, stoppelige Kinn und kniete sich schließlich neben Hige nieder, dem das Ziehen und Tätscheln in seinem Fell allmählich lästig wurde. Er musste zusehen, dass er Blue irgendwie aus dem Haus locken konnte. Aber die Wölfin hatte sie vor dem Kamin zusammengerollt und schien zu schlafen, obwohl Hige spürte, dass sie nur versuchte, ihm auszuweichen. Ihr Atem war zu unregelmäßig, als dass sie hätte schlafen können.
„Du bist doch sicher hungrig, wie?“, lockte der Mann mit tiefer, rauchgegerbter Stimme, und bei diesem Ton horchte Hige auf. So alt und rau – aber doch voller Zuversicht und Freude, ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Ein Name geisterte ihm durch den Kopf ... Quent? Hige starrte in das Gesicht des Mannes, auf seine niedrige Stirn und die faltige, gebräunte Haut, die sich über den breiten Wangenknochen spannte. Und er erkannte die Züge. Ein weiterer verloren gegangener Splitter seiner Erinnerung ... Was auch immer ihn mit diesem Mann verband, es konnte nichts gutes sein. Etwas schwebte in seinen Gedanken, die Ahnung von Rache und zielloser Wut – aber auch etwas anderes. Einsicht. Trauer über ... Ja, worüber? Hige schlackerte frustriert mit den Ohren. Einen Moment lang schien es ihm, als müsse er nur die Hände nach alledem ausstrecken, und er fände zu seinem anderen Leben zurück – aber schon im nächsten Augenblick war alles wieder ver­schwunden, und er wusste nicht mehr als das, was ihm blitzartig wieder ins Gedächtnis gekommen war. Schlauer wurde er daraus auch nicht. Hige blinzelte. Der Mann mochte nicht viel älter als Vierzig sein, aber die harte Arbeit auf dem Land hatten ihn früh altern lassen, genauso wie die Mutter des Kindes, eine freundlich blickende, dunkelhaarige Frau in einem vergilbten Kleid. Hige legte den Kopf schief, woraufhin der Mann lachen musste und in den Nebenraum verschwand.
Der Wolf stupste den Jungen vorsichtig an und löste die Fäuste aus seinem Fell, sodass das Kind von ihm abließ und zur Mutter lief, die es auf den Schoss nahm. Higes Blick fiel auf Blue vor dem Kamin, auf ihr samtschwarzes Fell, das im Licht der Flammen bronzefarben schimmerte. Ein Läch­eln stahl sich unbewusst auf seine Lefzen. Sie war so ... anmutig. Und dabei doch eigensinnig. Konnte sie sich denn an gar nichts mehr erinnern?
Vorsichtig und stets auf einen Angriff vorbereitet, tapste er linkisch auf sie zu. Im selben Moment schnellte Blue auf und bleckte drohend ihr Gebiss. Das dunkle Knurren, das aus ihrer Kehle drang, hätte Hige beinah winseln lassen, aber er besann sich und stemmte seine Pfoten in den staubigen Boden, sodass die Wölfin in ihrem Schwung fast in ihn hinein geprallt wäre. Knurrend wich sie zurück – und setzte sich auf die Hinterbeine. Verwirrt blickte sie ihn an, und ihre Augen zogen sich zusammen. Das Knurren in ihrer Kehle verstummte.
Der Mann trat neben sie und stellte beiden einen Teller mit groben, blässlichen Fleischstreifen auf den Boden, aber sie ignorierten ihn, genauso wie seine lockenden Worte, mit denen er ihnen das Futter schmackhaft machen wollte. Hige hatte nur Augen für Blue, für dieses strahlende Blau, das wie ein Paar Scheinwerfer in ihrem pelzigen, schwarz schimmernden Gesicht saß. Mit steifen Pfoten erhob er sich und trat auf sie zu, die Schnauze vorsichtig gesenkt und den Schweif be­ruhigend hin und her pendelnd, bis er schließlich direkt vor ihr stand. Ihm wurde weiß vor den Augen. Ein Lichtblitz aus einem anderen Leben ... Sie beide auf einer Brücke ... In einer endlosen, wie toten Ebene ... Dann auf einer Klippe, und der gefräßige Schlund eines tosenden Himmels über ihnen ... Bis die Mauer eines zähen, blutig roten Stroms seine Erinnerungen urplötzlich unterbrach und der Wolf sich vor dem Kamin wiederfand, flach atmend in die Flammen starrend. Etwas sagte Hige, dass er so schnell wie möglich fliehen müsse, aber seine Pfoten waren so schwer, als würden klobige Bleigewichte an ihnen hängen und ihn in in das kreisende Maul des Himmels aus seiner Vision hinunter ziehen ... oder hinauf. Die Richtungen hatten sich umgekehrt. Neben ihm erklang ein Winseln, und Hige wandte den Kopf.
Blue hatte sich neben ihm eng zusammengerollt und die Schnauze zwischen ihren Pfoten vergraben. Ein leises, verwirrtes Jaulen drang aus ihrer Kehle, das nun so gar nicht mehr nach der bedrohlichen Wachhündin vom Labor klingen wollte. Hige konnte sehen, wie ihre Flanken unter dem dichten Fell zitterten. Langsam beugte er sich zu ihr herunter, verharrte aber mit der Schnauze über ihren Schultern. Der Wolf war unsicher. Was tat er hier? Er war im Hause von Menschen, kauerte neben einer Wölfin, die er nur noch aus fahlen Erinnerungen kannte und die ihn noch vor kurzem am liebsten umgebracht hätte, und war sich doch sicher, dass er genau dies und nichts anderes tun musste. War das möglich?
Blue hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. Hige traf ein kalter Schauer, der nur wenige Atemzüge später in einem flauschig weichen Schwall an Wärme verflog, als Blues Zähne ihn am Nackenfell packten. Aber es war kein aggressiver Biss mehr, sondern mehr eine Art verspieltes Zausen, um über ihre eigene Verwirrung hinweg zu täuschen. Behutsam stupste Hige die Wölfin mit der Schnauze an und rollte sich dann neben ihr zusammen, den Schweif wärmend um seinen Körper gelegt. Etwas war mit Blue passiert. Auch wenn er noch nicht ganz begriffen hatte, was es war, in diesem Moment war ein Teil ihres Wesens zurückgekehrt. Hatte auch sie ein Vision gehabt? Hige blinzelte in das tanzende Rot der Kaminflammen hinein und spürte ihre beißende, rauchige Hitze, die ihm in den Augen brannte. Und wenn, was hatte sie gesehen? Ein wohliger Schauer rann ihm über den Rücken, und die Fragen in seinem Kopf versanken in den zischenden Flammen, als ein trockener Ast brach und Funken sprühte. Mit einem Mal fühlte er sich wunderbar warm und ge­borgen im Schutz der Menschen und mit Blue an seiner Seite. Wenigstens für diese Nacht.

Tsume kauerte abseits der anderen im Schnee und starrte in das kränklich blasse Licht des Abends hinaus, das seine matten Strahlen in wilden Schlangenlinien über die endlos weiße Fläche peitschte. Die Tage wurden nun rasch immer kürzer, je weiter sich der Winter in das Land hineinfraß, und würden bald die ersten starken Schneestürme vom Himmel fegen. Tsume atmete tief ein und füllte seine Lungen mit der klaren, kalten Luft, die sonst immer alle lästigen Gefühle fort wehte. Nicht so dieses Mal. Sie blieben, die verwirrenden Gedanken, und ließen sich unmöglich vertreiben. Verärgert erhob sich der Wolf und wollte schon zu den anderen zurückkehren, als hinter ihm der Schnee unter leisen Tritten brach. Rasch wandte er den Kopf, und wäre beinah einen Schritt zurückgewichen. Nicht weil es ihn erschreckt hätte, Laute in der Stille zu hören, sondern aus Furcht vor diesen grauen Augen. Dort stand Kawa und kam mit langsamen, aber sicheren Schritten auf ihn zu. Tsume richtete sich auf und vergrub die Hände in den Hosentaschen.
„Was willst du?“, fragte er, und seine Stimme klang ungehaltener, als er es beabsichtigt hatte.
Kawa antwortete nicht und trat nur schweigend neben ihn, die Augen im Sonnenlicht verloren. Tsume wandte sich um und folgte ihrem Blick. Eine Weile standen sie so da, beide in den Anblick der in der Kälte zerfließenden Sonne vertieft. Dann senkte Kawa den Kopf und antwortete mit leiser Stimme, die Augen geschlossen.
„Hanatsura hat mir erzählt, was passiert ist“, kam es leise aus ihrer Kehle, und bei dem Gedanken an ihren Bruder musste sie an sich halten, um nicht wieder zu zittern. „Ich hatte Glück. Wenn er nicht rechtzeitig gekommen wäre, wäre ich wirklich tot gewesen.“
Sie wagte er nicht, Tsume anzusehen. Aber obwohl sie ihre Augen weiter geschlossen hielt, spürte Kawa, wie sich der Wolf neben ihr verkrampfte und einen Atemzug lang mit sich kämpfte, nicht zu­rück zu weichen.
Kawa öffnete ihre Augen zu einem schmalen Spalt und starrte in das Sonnenlicht hinein, das ihr mit einem Mal viel heller und strahlender erschien. Sie musste blinzeln.
„Wieso bist du geflohen?“, rutschte ihr die Frage plötzlich heraus, und da war es ausgesprochen. Die Frage, die ihr so lange auf der Seele gelegen hatte, aber die sie doch nie hatte stellen können. Die Wölfin ballte ihre Hände zu Fäusten und bohrte sich die Nägel ins Fleisch. Der schwache Biss in ihren Handflächen war nichts gegen das, was in ihrem Inneren tobte. Da stand sie neben dem Wolf, dem sie einmal blind vertraut hätte, und von dem sie nun nicht einmal wusste, ob sie ihn hassen sollte oder verletzten - mit Krallen oder Worten.
Tsume starrte die Wölfin entgeistert an. Für ein, zwei Atemzüge begriff er nicht einmal, was sie meinte. Sie sprach in Rätseln. Aber dann ... Dieses Grau ... Es war nicht möglich, es konnte nicht sein. Das Grau war verloren, seit dem Tag, an dem für ihn seine Unbeschwertheit gestorben war. Die Sekunden verstrichen in quälender Langsamkeit, und nur der fade Wind heulte blass über das Eis.
„Mitsuke?“, stolperte der Name heiser aus seiner Kehle heraus und verklang über dem Schnee. Mit einem Mal schien die Last von Tonnen auf Tsumes Schultern zu liegen, und nun konnte er nicht mehr anders, er wich zurück. Gleichzeitig kam er sich so furchtbar lächerlich für seine Hilflosigkeit vor, dass er sich am liebsten auf der Stelle abgewandt hätte und vor all dem geflüchtet wäre. Aber es war nicht nur das ... Es war nie nur das gewesen, warum Tsume sich von allen abgeschottet hatte. Scham hatte er nie gekannt, weil er sie verdrängt hatte. Jetzt kam alles wieder zurück.
„Nein.“ Alles, was er tun konnte, war den Kopf zu schütteln. Aber als er den Blick in ihren Augen sah, wusste der Wolf, dass er nur erneut vor seiner Lebenslüge davonrannte.
„Du bist gestorben“, knurrte der Wolf und kam sich dabei schrecklich lächerlich vor. In ihm brodelten Ärger, Verwirrung und so etwas wie ... Hoffnung? Er schüttelte den Kopf, um diese Ge­danken zu verbannen. Nein! Das war vorbei! Kawa ... Mitsuke – sie hatte die ganzen Jahre über ge­lebt, während er stets davon ausgegangen war, sie wäre bei dem Massaker umgekommen.
„Das wäre ich auch fast“, murmelte die Wölfin, und ihre Stimme klang spröde, als müsse sie sich erst wieder an die Worte erinnern, die ihr auf der Seele lagen – weil sie sie zu lange verdrängt hatte. „Mein Bruder war noch da.“ Sie wandte den Kopf und funkelte Tsume an, mit einem Mal von einer Wut erfüllt, die vorher nicht da gewesen war. Wo war sie hergekommen? Hanpaku ist gestorben. Auf der Jagd. Ein Hirsch hat ihn aufs Geweih genommen.“ Die Stimme der Wölfin bebte vor unter­drücktem Zorn. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es für uns danach war. Wir waren nur noch vier!“ Sie zischte und wandte den Kopf ab, um seinen Anblick nicht mehr ertragen zu müssen. Das Gold in seinen Augen machte es für sie nur noch schwieriger, ihn nicht einfach anzufallen und sich für alles zu rächen ...
Sie machte sich etwas vor. Sie war nicht fähig, Tsume zu verletzen. Dafür hatte sie einmal zu viel verbunden. Aber was war davon heute noch geblieben? Ein kümmerlicher Rest verstreuter Erinner­ungen, tausende Splitter einer großen, schimmernden Kugel, die vor vielen Jahren an einem dunk­len Tag zersprungen war, brodelnde Hilflosigkeit angesichts von Wut und Verbitterung, die sich über die Zeit aufgetürmt hatten. Wieso hatte er sich überhaupt je ihrem Rudel angeschlossen? Sie senkte den Kopf. Tsume war als Jungwolf zu ihnen gestoßen. Er kam nicht aus ihrem Rudel, aber doch hatten sie ihn bei sich aufgenommen. Eingelebt hatte er graue Wolf sich aber nie richtig. Es hatte immer geschienen, als konnte er ihnen nie wirklich vertrauen. Und sie alle hatten ihre Bestätigung gefunden, als er geflohen war. Sie selbst ja auch. Und sie hielt immer noch daran fest. Kawa schloss die Augen ...
... und öffnete sie als Mitsuke.
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte sie leise, und in ihrer Stimme spiegelte sich ihr schneidender Groll wider. Tsume wandte den Kopf, und in seinen goldenen Augen laß sie, was schon längst in ihrem Kopf geisterte. Da standen sie in ihrer Hilflosigkeit, ihrer Wut und unterdrücktem Scham, und konnten nichts anderes tun, als nur stumm in den Abendhimmel hinaufzustarren, in der Hoffnung, die Sonne möge rasch untergehen, um ihrem Schmerz eine baldige Nacht zu bescheren.
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BeitragThema: KAPITEL 22   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:34 pm

Das kleine Zimmer lag in dämmrigem Dunkel, und das einzige Licht, das in der späten Nacht glühte, war der erlöschende Kamin. Die Menschen waren schon lange verschwunden, sie hatten sich zur Ruhe gelegt, und seitdem lagen die beiden Wölfe nebeneinander vor dem wärmenden Feuer, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Sie genossen einfach die Stille ... Und dieses selt­same, sogar befremdende Gefühl, in diesem Moment nichts anderes zu wollen. Sie waren zufrieden, wie sie so im schummrigen Lichtschein lagen, eingehüllt in zuckende Flammen und wohlige Wärme, die ihnen tief in den Pelz kroch. Knackend zersprang trockenes Holz im Feuer und sprühte glühend goldene Funken.
„Woher kennen wir uns?“
Hige zuckte mit den Ohren und wandte den Kopf. Neben ihm kauerte Blue und starrte in die herunter gebrannten Flammen, die leise im Kamin loderten. Die blutrote Glut der schwarz ge­brannten Kohle und der Geruch nach süßem Holz lagen in der warmen Luft. Es war das erste Mal, dass die Wölfin ihn ansprach, und Hige war im ersten Augenblick etwas überrascht. Ihre Stimme hatte einen angenehmen, ruhigen Klang, der wunderbar zum Blau ihrer Augen passte, wie Hige sich eingestehen musste. Er hätte sie noch länger einfach so betrachten können, aber dann setzte er sich auf die Hinterläufe und legte nachdenklich den Kopf zur Seite.
„Du kennst mich?“ Mehr fiel ihm im ersten Moment der Überraschung nicht ein. Sie spürte es also auch ... Sein Herz sprang freudig im Brustkorb.
„Ich weiß nicht.“ Sie hob den Kopf und blickte zu ihm hoch, die Pfoten entspannt übereinander ge­legt. Wie eine große Katze, schoss es Hige durch den Kopf, und er musste lächeln. Sie blickte ihn gelassen an.
„Da ist doch etwas. Warum, meinst du, habe ich von dir abgelassen?“ Ihre Stimme klang gleich­gültig, doch Hige musste grinsen. Ein Scherz. Aber ihre Ohren legten sich zurück.
„Ich meine es so. Ich bin dafür aufgewachsen.“ Blue erhob sich und trottete zum Fenster hinüber. Sie legte ihre Pfoten auf das Brett und starrte durch die beschlagenen Scheiben in die Dunkelheit hinaus. Im Fenster spiegelte sich Higes verschwommene Gestalt, der etwas verwirrt vor dem Kamin hockte und sie stumm anstarrte. Dort draußen war nichts. Sie musste sich getäuscht haben.
Blue ließ sich wieder auf alle Viere herab und starrte zurück, mit dem Rücken zur Wand. Zwischen ihnen gähnte der leere Raum, und mit einem Mal lag eine unbestimmte Spannung in der Luft. Der friedliche Augenblick von eben war verflogen, und Hige wusste nicht, warum.
„Ich habe dich angegriffen, und doch kommst du hierher“, meinte die Wölfin und blickte aus­druckslos in die Flammen. „Warum.“
Hige wollte auf sie zugehen, aber etwas in Blues Augen hielt ihn davon ab. Es war nicht mehr der ziellose Hass, der bei ihrem Kampf in ihnen gebrannt hatte, aber etwas anderes, nicht minder ge­fährliches. Bloß lag es noch verborgen und würde ihm nicht schaden, solange er respektvollen Ab­stand hielt. Der Wolf ließ sich wieder nieder und starrte in die pulsierende Glut.
„Du hast es doch auch gespürt. Du musst es gespürt haben.“ Ohne dass er es unterdrücken konnte, schlich sich ein Flehen in Higes Stimme. Wie ein Welpe. Er kam sich lächerlich vor.
Blue senkte den Kopf, behielt den Wolf aber weiter im Blick. Sie wusste nicht, was sie darauf ant­worten sollte. Es stimmte, was er sagte, und damit traf er ihren wunden Punkt. Ihren verletzbaren Stolz. Sie ... hatte etwas gespürt. Was sie nicht hatte wahrhaben wollen und deswegen ausgeblendet hatte – aber das änderte nichts daran. Genau deswegen verspürte Blue immer noch ein leichtes Misstrauen dem Wolf gegenüber. Es ging nicht an. Es war gegen ihre Natur. Sie konnten sich gar nicht kennen, weil sie ihm bis zu diesem Tag am Labor noch nie vorher begegnet war. Und doch war da dieses unbekannte, verwirrende Gefühl der Vertrautheit. Sie wollte sich dagegen auflehnen, es war ihr unangenehm, machte sie sogar innerlich zornig, aber es ließ sich nicht unterdrücken. Es hatte sie vorhin sogar daran gehindert, ihn anzugreifen. Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt, als er in der Tür gestanden hatte. Er war ein Wolf. Der Erzfeind, der sich in das instinktive Ge­dächtnis eines jeden Hundes eingebrannt hatte. Hätte Blue gewusst, wie viel Wolfsblut in ihren Adern floss, hätte sie vielleicht anders darüber gedacht. Aber so war es ihr doch unmöglich ge­wesen, dem Wolf an die Kehle zu gehen. Etwas hatte sich zwischen ihren instinktiven Hass und ihr perplexes Opfer geschoben und ihn vor ihren mörderischen Fängen gerettet. Inzwischen, das musste Blue sich eingestehen, war sie froh darüber, dass sie es nicht geschafft hatte, ihn anzugreifen. Froh war sie ... Und erleichtert. Es war schön gewesen, mit ihm vor dem Kamin zu liegen. Sie hatte sich in der Stille und der stummen Wärme unendlich wohl gefühlt ... Fast kam Blue sich dafür lächerlich vor. Sie blinzelte. Sie kam sich lächerlich vor.
Je weiter sie in Gedanken verweilte, desto mehr bröckelte ihre Fassade. Und der Wolf schien es zu spüren, denn er richtete sich auf und tat einen zögerlichen Schritt in ihre Richtung. Sie wollte knurren, aber aus ihrer Kehle drang nicht mehr als ein wehrendes Fiepen. Sie wollte nicht, dass er näher kam. Etwas machte ihr Angst, und das, obwohl sie spürte, dass von ihm keine Gefahr aus­ging. Es war lediglich ihr Stolz, der nicht zuließ, dass sie begriff.
Unsicherer als vorher, blickte sie ihr Gegenüber an. Zum ersten Mal musterte sie ihn eingehender, sein helles, beigefarbenes Fell, das im Licht der Glut rötlich schimmerte. Den dicke Pelz und die braunen Augen, in denen eine gewisse Wärme lag. Warum? Sie hatte sich nie schwach gefühlt. Wieso dann genau jetzt, unter den Blicken eines Wolfes, den sie noch vor kurzem am liebsten um-gebracht hätte?
„Blue“, grollte der Wolf, und seine Stimme klang im Splittern der Kohle nach.
Sie legte die Ohren an. Woher wusste er ihren Namen? Ihr Nackenfell stellte sich auf, aber nicht der leiseste Funken Aggressivität sprühte mehr in ihr. Nur Verwirrung. Eine grenzenlose Frage.
„Bitte. Vertrau mir.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, aber Blue konnte nicht anders, sie senkte den Kopf. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Nur, dass er Recht hatte. Womit auch immer. Warum auch immer sie auf ihn hörte. Und dass jedes weitere hilflose Knurren, jede weitere Zurück­weisung ihres gekränkten Stolzes nur noch mehr Fragen aufgeworfen hätten.
Dann stand er vor ihr, und sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer Stirn spüren. Er war ein Wolf. Das Wort echote ihr immer wieder im Kopf, ohne dass sie etwas daran hätte ändern können. Wolf. Todfeind. Blue musste an sich halten, um nicht in einem unüberlegten Moment der Panik nach ihm zu schnappen. Was tat sie hier? Was war denn mit ihr los? Was nur?
Ihre Fragen wurden von einer einzigen Antwort überdeckt. Einem Namen, der plötzlich durch Er­innerungen geisterte, die sie gar nicht haben dürfte. Durch Lichtblitze und finstere Bilder, die mit Elend und Tod ihre Verwirrung in Angst kehrten.
„Hige“, knurrte sie, und wich zurück. Ihre Pfoten stießen gegen die Mauer, aber der Wolf antwortete nicht und trat nur wortlos einen Schritt vor, sodass er wieder direkt vor ihr stand. „Das ist dein Name“, murmelte sie, wie um es sich selber zu beweisen und ihre Angst zu beruhigen. „Du bist Hige.“ Sie fing an zu zittern.
Er konnte es nicht glauben. Sie war wieder sie selbst. Unter der Maske der gedrillten Wachhündin hatte er Blue wieder gefunden. Es erschien ihm immer noch wie ein Wunder ... Und ein Rätsel, das er nicht verstand. Kiba hatte Recht gehabt ... So verdammt Recht. Aber Hige begriff erst jetzt, was das wirklich bedeutete.
„Du bist kein Hund“, drang es aus seiner Kehle. „Du musst mich nicht bekämpfen. Du bist zur Hälfte Wolf.“
Wieder waren sie in der wohltuenden Stille und der einfachen Gegenwart des anderen gefangen, unfähig, sich aus dem Bann zu lösen. Lange Zeit standen sie so da, die Schnauzen einander zuge­wandt, aber mit geschlossenen Augen, und lauschten dem Atem des anderen, während Blue ver­suchte, seine Worte zu verarbeiten. Kein Hund? Ein Wolf? Was redete er da? Es wollte ihr nicht in den Kopf. Aber um ernsthaft darüber nachzudenken, fehlte ihr die Konzentration ... und der Mut, wie Blue sich eingestehen musste. Morgen. Sie verschob es auf den nächsten Tag. Sie würde noch genug Zeit und Gründe finden, sich mit all dem auseinander zu setzen.
Schließlich waren die letzten leckenden Flammen zur Gänze herunter gebrannt, und auch die Glut in den immer noch heißen Kohlen war erloschen. Ein heißer, beißender Geruch nach Rausch lag in der Luft, aber sie hatten beide in diesem Moment kein Gespür dafür. Aneinander gelehnt kauerten sie vor der schwarzen Glut, eng zusammengerollt. Hige blinzelte noch einmal schlaftrunken, bevor er die Augen schloss. Die Müdigkeit übermannte ihn, und alles glitt mit einem Mal in weite Ferne. Das Glück in seiner Brust aber blieb, auch, als sein Bewusstsein langsam im Dämmer des Schlafs versank. Das Glück ... das ihm ...
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf, noch bevor die Menschen erwachten. Leise und auf raschen Pfoten schlichen sie sich zur Tür heraus, die nicht verschlossen gewesen war, und folgten Higes Spuren vom Vortag, die immer noch schwach unter der Schneedecke hervorlugten. Wortlos und dicht nebeneinander trabten sie Richtung Westen, das erste Schimmern der kalten Sonnen­scheibe am noch düsteren Horizont im Rücken. Während ihres Weges hatten sie viel Zeit, mitein­ander zu reden, und schon bald wusste Blue, dass sie sich in etwas verstrickt hatte, das ein größeres Wagnis war als das Leben als Wachhund. Und sie wollte sie annehmen, diese Herausforderung.

Schweigend saßen die Wölfe im Kreis und blickten gedankenverloren in den herauf dämmernden Morgen hinein. Eine weitere Nacht war zu Ende gegangen, und immer noch war Hige nicht wieder zu ihnen gestoßen.
Kiba schlug den Kragen seiner Jacke höher und schlang die Arme um die Schultern, um das letzte bisschen Wärme seines verfrorenen Körpers einzufangen. Die Kälte machte allen trotz ihres dicken Pelzes zu schaffen und ließ sie schläfrig und gleichgültig werden. Die Stunden verbrachten sie dösend und in einvernehmlichem Schweigen, während der kalte Sonnenball langsam in den fernen Himmel stieg. Kibas Blick glitt in die spiegelnden, kilometerweiten Höhen hinauf und verlor sich in der strahlenden, wie reingewaschenen Klarheit der winterlichen Sonnenstrahlen. Schon lange hatte er keinen so klaren, ungetrübten Horizont mehr gesehen, und dieser Anblick weckte etwas in ihm, das an seinem Herzen zog und zerrte. Der Wolf schloss die Augen und spürte die Kälte in seiner Brust. Die Leere, die dort hauste, seit er Cheza verloren hatte. Cheza. Beim Klang ihres Namens zuckte er zusammen. Er vereinte das größte Glück und den größten Schmerz, den er in seinem Leben je empfunden hatte. Und er war sich nicht sicher, ob das eine das andere rechtfertigte ... Hatte sich sein kurzes Glück für das gelohnt, was er nun empfand? Was ihn so schnell wieder eingeholt hatte? Zum ersten Mal in seinem Leben wusste Kiba nicht, was er eigentlich wollte.
Müde streifte sein Blick die anderen Wölfe, die sich um die Höhle herum niedergelassen hatten. Toboe hatte sich wie ein großes Kätzchen zusammengerollt und blickte gedankenverloren in das sinkende Tageslicht, das seine Strahlen langsam dem Horizont entgegen reckte. Neben ihm lagen Hanpaku und Asa dicht nebeneinander, die kleine Ohisama in ihrer Mitte, und unterhielten sich leise, ohne dass Kiba ihre Worte verstehen konnte. Aber allein der Klang ihrer Stimmen bedrückte ihn. Tsume und Taiin hatten sich einige Schritte von den anderen entfernt im Schnee niedergelassen und saßen schweigend nebeneinander, jeder in seine Gedanken und den Anblick der noch tiefen Morgensonne vertieft. Kibas Blick blieb an Tsume hängen. Er war die ganze Nacht über fort gewesen, so wie auch Kawa, die erst vor kurzem wieder zu ihnen gestoßen war. Ohne ein Wort über ihr Verschwinden zu verlieren, war sie mit einem Mal wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich wortlos zu den anderen Wölfen gesellt, während sie den Blickkontakt mit ihnen jedoch vermied. Auf Fragen hatte sie nicht reagiert. Kiba blickte zu ihr hinüber. Die Wölfin kauerte mit geschlossenen Augen am Eingang der Höhle, an die gefrorene Wand gelehnt, und hatte die Arme zum Schutz vor der Kälte vor der Brust verschränkt. Kiba mustere sie. Kawa war einen ganzen Tag lang fort gewesen. Wo, darüber hatte sie kein Wort verloren, genauso wenig darüber, was sie bedrückte. Seitdem war Kawa ungewöhnlich schweigsam und verschlossen, und Kiba konnte sich keinen Reim darauf machen. Allerdings war nun auch Tsume so seltsam distanziert ... Stärker als sonst. Er runzelte die Stirn. War letzte Nacht etwas zwischen ihnen vorgefallen? Schon als er Kawa und Tsume im Käfig der Hundefänger beobachtet hatte, war ihm die gereizte Spannung zwischen den beiden aufgefallen. Sie rochen förmlich nach Aggression, wenn der andere in der Nähe war. Kiba hatte dem anfangs keine große Beachtung geschenkt, da er sie so einschätzte, dass sie sich beide einfach nicht bemühen wollten, aus ihrer Abneigung keinen großen Hehl zu machen. Aber nun wurde es ihm allmählich zu bunt. Sie waren ein Rudel, und als solches mussten sie zusammen halten. Zumal von Darcia immer noch eine große Bedrohung ausging ... Sie konnten es sich einfach nicht leisten, an so nichtigen Kämpfen auseinander zu brechen.
Kiba erhob sich und wollte schon zu Tsume hinüber laufen, als ihn plötzlich eine Hand von hinten an der Schulter packte und ihn zurück hielt. Verwirrt wandte der Wolf sich um und erkannte Hanpaku, der ihn mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln warnte. Kiba runzelte die Stirn. Der alte Wolf war in den letzten beiden Tagen sehr schweigsam gewesen, meist in seinen Ge­danken versunken, und so war er etwas überrascht, nun von ihm zurückgehalten zu werden.
„Ich will dir etwas zeigen.“ Hanpakus Worte klangen rau. Kiba nickte trotz der unguten Ahnung, die ihn beschlich. Zusammen gingen die beiden Wölfe fort, während das Rudel in einer Stille aus Erschöpfung und Gleichgültigkeit zurückblieb, die tiefer nicht hätte sein können.
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BeitragThema: KAPITEL 23   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:34 pm

Eine Zeit lang trotteten sie im Gleichschritt nebeneinander her, ohne ein Wort zu wechseln. Das Schweigen des Eismeeres lag in der kalten Luft und wisperte unhörbar durch ihr dichtes Fell. Schließlich blieben sie auf einem der höheren Hügel stehen und blickten von der Anhöhe in die Landschaft hinaus. Unter dem kahlen Horizont erstreckte sich eine schmale, hauchdünne Linie. Die Kuppel der Stadt. Sogar aus dieser Entfernung war sie noch zu erkennen. Ein seltsames Wahr­zeichen, so weit draußen in der Lebensfeindlichkeit der unwegsamen Natur. Bei diesem Anblick zog und zerrte etwas an Kibas Herz, dass es rasch schneller schlug. Etwas dunkles. Bedrohliches. Kiba war es, als würde er mitten in die starren, gefährlich glitzernden Augen Darcias blicken. Hastig senkte er den Kopf. Eine Einbildung. Aber nicht die erste. Diese Augen verfolgten ihn, sogar bis in seine Träume.
„Du spürst es, das weiß ich“, klang Hanpakus Stimme durch die gefrorene Luft und durchbrach die Stille. Kiba spürte den Blick des Älteren auf sich ruhen, starrte aber weiter auf das dunkle Gewölbe am Horizont. Er konnte seinen Blick nicht abwenden. Er war dort. Und wartete auf ihn.
Kiba.
Der Wolf zuckte zusammen. Er schloss die Augen und senkte den Kopf. Bilder blitzten in seiner Erinnerung auf, Bilder aus glücklicheren Tagen. Aus vergangenen. Sie waren so rar gewesen. Wo auf seinem Weg hatte er sie verloren?
Kiba. Cheza wird bei dir bleiben.
Er verbiss seine Kiefer. Warum? Warum nur? Wieso kamen all diese Erinnerungen jetzt zu ihm zu­rück?
Cheza ist nur ein Geschöpf der Blumen.
Er hatte sie schon die ganze Zeit in sich getragen – warum waren sie nie zum Vorschein gekom­men?
Diese Welt wird sich jetzt für immer schließen.
Ein hilfloses Knurren drang aus Kibas Kehle. Es war kein Zorn, keine Bitterkeit und auch keine Angst. Es war einfach nur Sehnsucht.
Das ist auch der Grund, warum wir uns wiedersehen werden.
Die Macht, mit der sie an ihm zerrte, ließ ihn erzittern. Nein. Sie hatte sich geirrt. Wo war sie denn? Wo musste er denn nach ihr suchen? Es gab nichts mehr, was ihn mit der anderen Welt verband. Sie war auf ewig verschlossen. Wo sollte er anfangen, zu suchen? Im Unerreichbaren?
Was war aus seinem Versprechen geworden? Was aus ihm? Alles, was von dem starken weißen Wolf in ihm übrig geblieben war, alles, was sich in diese Welt hatte retten können, schien in manchen Augenblicken nur noch aus Hass und Furcht zu bestehen, der ihn langsam von innen auffraß.
„Du spürst sie.“ Hanpaku sah ihn nicht an, aber eine gewisse Wärme in seiner Stimme ließ Kiba aufhorchen. Wer war sie?
„Du weißt es doch. Warum verdrängst du es dann? Du hast ihr dein Versprechen gegeben.“
Kiba hob den Blick und starrte den alten Wolf an, verwirrter denn je. Woher konnte er wissen, was gerade in ihm vorging? Sollte sie möglicherweise ...?
„Ich weiß das sehr wohl“, war Hanpakus ruhige, beinah gelassene Antwort. Allein in seinen matt gelben Augen laß Kiba etwas, das er nicht deuten konnte. Schmerz? Scham? Hatte der Ältere gera­de seine Gedanken erraten? Er legte die Ohren an. Ein ungutes Gefühl stieg in seiner Brust hoch.
Dann wurde alles weiß vor ihm. Ein Lichtblitz. Danach nichts mehr.

Schweigen. Stille. Eine wunderbare Ruhe umgab ihn, hüllte ihn ein. Spann ihr Netz aus Vergessen und Vergehen um seine gebrochene, willenlose Seele. Er versank in Dunkelheit ... Und der Schein eines blutgetränkten Mondes wurde immer blasser, unbedeutender, entrückter, bis nur noch eine fahle Kugel aus trübem Silber in den schwarzen Wellen schillerte. Im rollenden, wogenden Tod, der allen Schmerz und alle Trauer fortspülte. Und damit auch alle Hoffnung.
Er schloss die Augen, und das strahlende Gold seiner matten Iris erlosch. Verschwamm in der Hoffnungslosigkeit, die alles erfüllte. Im Tod, der alle Wesen eines Tages erhaschen musste. Es war so logisch. So einfach und endgültig. Und wurde mit jeder weiteren Sekunde, jedem weiteren Au­genblick, auch immer leichter zu akzeptieren. Er musste nicht mehr töten. Nicht mehr kämpfen und mit ansehen, wie alles um ihn herum starb. Das Leiden war vorbei. Er konnte loslassen. Einfach aufgeben und ... sich fallen lassen. In diese warme, lockende Wärme, die seiner wunden Seele Heilung versprach.
Dann hörte die Zeit auf zu schlagen. Alles setzte aus, verschwand im Nichts, war nie entstanden und nie geschehen. Der Augenblick Null. Der Anfang vor dem Anfang, den es vielleicht nie gegeben hatte. Wie konnte dann dies hier ein Neubeginn sein? Es war ihm so gleichgültig ...
Aber etwas hatte überlebt. Er spürte es ... zaghaft. So unendlich vorsichtig. Tastend. Ein letzter, der allerletzte Funke Leben, der in seiner zerstörten Seele noch geglüht hatte.
Ein Name flüsterte im Wind. Wo kam er her? Hier konnte es keinen Wind geben. Hier durfte es nichts geben. Nicht einmal ihn selbst. Und doch spürte er ihn, den kühlen Hauch. Und der Funke glühte auf, erst klein und verletzlich, bald strahlend und stark. Das Herz der Zeit setzte wieder ein, und das fordernde, stetige Pochen trommelte sich in sein Bewusstsein ein.
Kiba.
Sein Herz tat einen schmerzhaften Sprung. Rauschend schoss das Blut durch seine Adern und presste das Leben gewaltsam in den geschundenen Körper zurück. Drängte die Dunkelheit bis in den entlegensten Winkel zurück. Es gab einen Neubeginn nach dem Ende. Auch wenn es eigentlich keinen Anfang geben konnte. Das flüsterte ihm die Stimme.
Der Wind ... Sie ...
Kiba.

Der Wolf kam wieder zu sich. Und er wusste es.
Sie war dort. Sie war dort ... Cheza. Sie war immer noch dort, irgendwo zwischen dem Nichts und seiner Erinnerung. Er durfte sie nicht im Stich lassen.
„Woher wusstest du es?“, flüsterte Kiba, aber er bekam nur eine Antwort, und es war nicht Hanpaku, der sie aussprach. Es war das ferne Echo der glockenhellen Stimme, die noch in seinen Ohren nachhallte.
Kiba. Versprich mir das.
Kein Windhauch regte sich. Das Land lag in einer Klarheit und Offenbarung vor ihnen, wie Kiba sie noch nie gesehen hatte.
„Weil ich einmal dasselbe gespürt habe“, lautete schließlich die schlichte Antwort. „Ich habe den Fehler begangen, nicht auf ihre Stimme zu hören. Nachdem ich sie verloren hatte, konnte ich nicht mehr den Mut aufbringen, nach ihr zu suchen.“
Hanpakus Worte klangen harmlos, aber die Bedeutung, die sich hinter ihnen verbarg, kroch Kiba wie eine kalte, giftige Schlangenzunge ins Bewusstsein. Entgeistert starrte er den alten Wolf an, der mit einem Mal müde wirkte, ausgelaugt, verletzlich.
„Wer ist sie?“, stolperten ihm die Worte über die Lippen, obwohl er die Antwort insgeheim schon ahnte. Hanpaku blickte ihn traurig an.
„Cheza.“
Eine eisige Stille legte sich über die beiden Wölfe. Die frostige Klaue aus brennendem Eis schien sich stärker um Kibas Herz zu legen und allmählich immer fester zuzudrücken. Es drängte ihn, Hanpaku in die Augen zu sehen, aber etwas hielt ihn zurück. Der Wolf spürte – Angst. Die Furcht vor etwas, das seinen Verstand übersteigen könnte. Dem er vielleicht nicht gewachsen wäre.
„Du bist ihr nie begegnet. Du kannst sie gar nicht kennen“, startete er einen verzweifelten Versuch, nach einer logischen Erklärung für das furchtbare Gefühl zu suchen, das in ihm aufstieg. Aber er wusste, was Hanpakus Antwort sein würde. So, wie der alte Wolf seine Gedanken hatte lesen können, so ahnte auch Kiba, was gleich kommen würde.
„Oh nein. Ich kannte sie. Sehr gut sogar.“ Hanpaku senkte den Kopf, und Kiba spürte die plötzliche Sehnsucht in seiner Stimme, seinem Geist, die beide so haargenau dieselben waren wie die seinen. Bloß, dass in Hanpakus Worten noch etwas anderes mitschwang. Scham. Wut auf sich selbst. Ver­bitterung.
„Sie war mir das Wichtigste, was ich je kannte“, flüsterte der Wolf – und wandte den Kopf. Die beiden starrten sich in die Augen, der eine voller Gram, der andere stumm und entsetzt. Es waren dieselben Augen.
„Aber ich habe sie verloren. An dem Tag, an dem Darcia gewann, habe ich sie verloren.“
Kiba konnte nur den Kopf schütteln. „Er hat nicht gewonnen.“ Seine Kehle war wie ausgetrocknet. „Was redest du da? Woher kennst du Darcia?“
Aber der andere pendelte nur traurig mit der Schnauze. „Wir haben damals den Kampf gegen ihn verloren. Das Paradies wurde geöffnet. Und ich musste alles miterleben. Es war die Hölle. Ein grauenhaftes Loch aus Elend und Not. Dann tauchtet ihr auf ... Und euch ist gelungen, was ich nicht geschafft habe.“ Hanpaku blickte zur bleichen Silhouette der Kuppel. „Ihr habt ihn bezwungen.“
„Du hast es bereits versucht? Du hast das Paradies gesucht?“ Kibas Gedanken überschlugen sich. Konnte das sein? War dieser Wolf wirklich niemand anderer als ... er selbst? In einer anderen Welt? Es konnte nicht sein. Allerdings ... Woher kam denn dieses irritierende Gefühl der Gemeinschaft, des instinktiven Begreifens, wenn der alte Wolf neben ihm stand, mit ihm sprach, ihm in die Augen sah? Er hätte es von Anfang an sehen müssen. Aber Kiba war blind dafür gewesen.
Hanpaku nickte. „Das klingt unmöglich, aber auch ich habe einst mit Darcia gekämpft. Das war in einer anderen Welt. Seitdem wurde sie zweimal geschlossen ... Und durch andere ersetzt, die nicht viel anders waren. Diese hier ist nicht mehr die Welt, in der ich Darcias Gegner war. Sie ist auch nicht mehr die, in der du gekämpft hast.“ Er seufzte, und ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf seine Lefzen.
„Cheza war damals an meiner Seite. Auch sie hieß in meiner Welt anders ... Ihr Name war Shita Tsuyu ... Aber sie war dieselbe. Dasselbe strahlende Wesen.“
„Shita Tsuyu ...“, echote Kiba leise, und der Name klang in ihm nach. Der Tautropfen. Er zitterte.
„Wie kann das sein?“, knurrte er, mehr zu sich selbst als zu Hanpaku.
„Ich weiß es auch nicht“, kam die leise, bedrückte Antwort. „Ich weiß nur, dass ich irgendwann aus dem Dunkel erwachte ... Und mich in einer anderen Welt wiederfand, als die, die ich vor kurzem verlassen hatte. Das Erinnern war mühsam ... Aber es kam alles wieder zurück.“ Der Wolf ließ sich erschöpft auf den Hinterläufen nieder, und Kiba tat es ihm unbewusst gleich. Zu viel war in zu kurzer Zeit auf ihn eingeprasselt.
„Ich machte mich auf die Suche nach den anderen. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie es vielleicht nicht bis in die neue Welt geschafft haben könnten.“
Die anderen, so vermutete Kiba, waren die Wölfe, mit denen Hanpaku damals ein Rudel gebildet hatte. Aber er wagte nicht, zu fragen. „Hast du sie gefunden?“
Hanpaku ließ sich mit der Antwort Zeit. „Nein“, sagte er schließlich, und aus seinen Worten klang Bedauern heraus. „Ich habe sie zwar aufgespürt, aber sie waren nicht mehr dieselben. Sie wollten sich nicht mehr an das erinnern, was passiert war. Vielleicht hatten sie Angst davor, dass es die Wahrheit sein könnte.“ Er zögerte kurz. „Eine fand ich wieder. Asa.“
Kiba grollte überrascht, nickte dann aber. Mit jedem weiteren Wort Hanpakus begriff er ein Stück des Ganzen mehr. Asa hatte also auch zu Hanpakus früherem Rudel gehört, bevor sie damals von Darcia besiegt worden waren. „Dann wurde das Paradies schon einmal geöffnet?“, fragte er, und Hanpaku nickte.
„Aber Darcia missbrauchte das Licht der Mondblume. Shita ... starb in seinen Fängen. Und er betrat das Paradies. Ich war unfähig, ihn daran zu hindern. Die anderen waren schon tot.“ Ein Stöhnen entwich seiner Kehle. „Asa. Ich musste mit ansehen, wie sie vor meinen Pfoten erstickte, während Darcia Shita das Leben nahm. Ich konnte unmöglich zwischen ihnen wählen. Sie mussten beide sterben.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
Kiba atmete lautlos aus. Das durfte alles nicht wahr sein. „Was ist danach passiert?“
„Darcia verschwand spurlos. Und ich konnte nicht mehr weiter. Ich ...“, ein trauriges Lächeln lag auf seinen Zügen, „ich bin gestorben. Ich weiß nicht, wie man das beschreiben kann. Ich hatte Zeit meines Lebens immer Angst vor dem Tod. Und so war es auch. Ich hatte regelrechte Panik, da ich spürte, dass mich die Kräfte verließen. Aber als es soweit war, gab es nur noch Leere. Keine Furcht mehr.“
Eine längere Pause entstand, in der keiner der beiden etwas sagte. Schließlich fuhr Hanpaku fort:
„Das Paradies war keines. Du hast es selbst erlebt. Durch Darcias Willen war es beschmutzt worden. Ich weiß nicht, durch welches Schicksal du und die anderen zueinander gefunden habt, aber dann tauchtet ihr eines Tages in dieser Stadt auf.“ Der alte Wolf blickte den Jüngeren an. „Und den Rest kennst du.“
Kiba senkte den Kopf. Seine Gedanken überschlugen sich. „Wieso existierst du immer noch? Du musst schon zweimal gestorben sein.“
Hanpaku hob die Schultern, was fast wie ein menschliches Schulterzucken wirkte. „Es stimmt. Und ich weiß es nicht. Es könnte genauso gut sein, dass es noch andere wie uns gibt.“
Kiba runzelte die pelzige Stirn. „Wie meinst du das?“
„Dass es schon vor mir Wölfe gab, die gegen Darcia gekämpft haben. Auch sie könnten mit jedem weiteren Mal, mit dem das Paradies geöffnet und wieder geschlossen wurde, wiedergeboren worden sein. Aber mir ist nichts davon bekannt.“
Kiba nickte, und die nächste Zeit verbrachten sie schweigend. Der weiße Wolf brauchte seine Zeit, um zu begreifen, was Hanpaku ihm gerade erzählt hatte. Auf der einen Seite erklärte es, warum er selbst wiederbelebt worden war. Und es gab ihm Hoffnung. Darcia würde es also immer wieder mit Gegnern zu tun haben, auch wenn sie dieses Mal wieder verloren.
Die Ohren des Wolfes spielten im Wind. Cheza ... Shita Tsuyu ... Welche Namen mochte sie noch haben? Sie hatte nie etwas erwähnt. Vielleicht, so kam ihm der Gedanke, hatte sie nicht einmal mehr die Erinnerung an das gehabt, was vor ihrem Dasein als Cheza geschehen war. Sie war eine Mondblume, und wie alle Blumen war sie vergänglich. Blüten verwelkten und keimten erst im nächsten Frühjahr wieder auf. Kiba nickte unbewusst. So musste es sein. Aber wo war sie dann nun? Es war Zeit für die Blume, wieder zu erblühen. Doch nirgendwo spürte er den leichten, zarten Duft ihrer Blüten. Vielleicht war der Winter zu hart gewesen. Kiba blinzelte, um das Brennen in seinen Augen loszuwerden. Es half nichts, wenn er auf sie wartete. Ihre Stimme ... Sie hatte so vertraut geklungen, und dabei so voller Sehnsucht nach Leben, nach Glück, dem Licht des Mondes ...
„Tu das, was ich nicht geschafft habe“, sagte Hanpaku, und am Ernst in seiner Stimme konnte Kiba hören, wie wichtig es dem alten Wolf war. „Mach nicht denselben Fehler wie ich.“
Sie sahen sich an, und Kiba konnte nicht anders. Er nickte stumm. Er hatte die Warnung wohl ver­standen. Darcia zu besiegen war das eine. Aber Cheza zu finden etwas ganz anderes. Und obendrein ein Versprechen, das er gegeben hatte.
Ihm kam ein Gedanke. „Könnte es sein, dass Darcia mit Lain dasselbe vorhat wie mit Cheza?“, fragte er und blickte Hanpaku nachdenklich an. Hanpaku schaute ihn von der Seite an.
„Sie ist halb Mensch, halb Wolf.“
Kiba legte die Ohren zurück. „Eben. Aber die Blume ist nicht mehr hier.“
„Das Mädchen wäre ein ideales Opfer, glaubst du?“ Hanpaku starrte auf seine Pfoten. „Dann sollten wir besonders gut auf sie aufpassen.“
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BeitragThema: KAPITEL 24   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:36 pm

Tsume starrte stumm vor sich hin. Er saß etwas abseits der anderen auf dem Hügel über der Höhle, den Rücken dem Rudel zugewandt. Das Kinn auf den verschränkten Armen aufgestützt, kauerte der Wolf im Schnee, aber er spürte die Kälte nicht.
Ein Tag war seit dem Abend vergangen, an dem Mitsuke wiederauferstanden war. Immer noch konnte der Wolf es nicht recht begreifen. So lange hatte er mit der Gewissheit gelebt, die Wölfin sei damals durch seine Feigheit ums Leben gekommen, und nun stand sie plötzlich wieder vor ihm. Es hatte ihm einen Schlag versetzt. Auf der einen Seite war da die Freude darüber, dass Mitsuke das Massaker doch überlebt hatte. Aber zu viele andere Gefühle verdrängten diese Freude. Furcht. Scham. Und Wut darüber, dass er sie nicht verdrängen konnte. Vielleicht auch Wut über sich selbst.
Tsume hatte damals nicht lange überlegt. Beim Anblick von Mitsukes zerfetztem Körper hatte der Wille zu Überleben in ihm Überhand genommen, und die Panik hatte jeden klaren Gedanken in ihm ausgelöscht. Er hatte immer nur weiter laufen können, unfähig, stehen zu bleiben und sich um­zuwenden, um seinem Rudel zu helfen. Was hätte er auch schon groß tun sollen? Helfen hätte er niemandem mehr können. Sie waren alle tot gewesen.
Nein. Sechs Wölfe hatten überlebt. Sie waren dem schrecklichen Wüten der Strahlen entkommen. Das konnte keine Ausrede sein. Es war tatsächlich sein Fehler gewesen, und keine noch so große Furcht dieser Welt konnte ihn entschuldigen.
Unter den überlebenden Wölfen war Hanatsura gewesen. Mitsukes Bruder. Tsume senkte den Kopf. Er war zurückgekommen ... Er hätte es nicht tun sollen.

„Was willst du noch hier?“, knurrte der mächtige Wolf, und sein dunkelgraues Fell stellte sich warnend auf. Die Lefzen verzogen sich zu einer gefährlichen Grimasse. „Du hast hier nichts mehr verloren! Hau ab!“
Der junge Wolf duckte sich vor den Kiefern des ranghöheren Älteren, aber er spürte gleichzeitig, wie der Mut der Angst in ihm hochstieg. Glaubte Hanatsura vielleicht, er hätte Mitsuke und die anderen zurückgelassen, weil er ihnen nicht hatte helfen wollen? Er war panisch gewesen, und nur deswegen war er fortgerannt ... Aber irgendwo in sich selbst wusste Tsume, dass es gleichgültig war, warum er geflohen war. Es zählte nur, dass er es getan und damit sein ganzes Rudel verraten hatte. Und Mitsuke an erster Stelle.
„Du wirst uns verlassen“, knurrte Hanatsura in seinem Zorn und schnappte nach dem Jüngeren, der verschreckt zurückwich. „Zwing mich nicht.“
„Was ist mit Mitsuke?“, rutschte es dem jungen Grauen heraus, und Hanatsuras Miene verfinsterte sich, soweit das noch möglich war.
„Wegen deiner eigenen Feigheit wirst du sie nicht mehr wiedersehen“, knurrte er, und seine Stimme schlug in ein aggressives Heulen über, während Tsumes Herz für eine schmerzhafte Sekunde aussetzte. Nicht mehr wiedersehen ... Das konnte nur eines bedeuten.
Ein tiefes, vibrierendes Bellen explodierte in Hanatsuras Kehle. Mit einem Mal machte der ältere Wolf einen Satz und schnappte mit den Kiefern nach Tsume, der nicht mehr rechtzeitig zurück­springen konnte. Blut spritzte von seiner Brust auf, und ein fürchterlicher Schmerz fraß sich in sein Herz. Mit der Kraft der Angst warf Tsume sich zur Seite und landete hart auf der Seite. Die Brust war ein einziger, blutiger Schmerz. Feucht tropfte der warme Film über sein struppiges Fell und verklebte es mit abstoßendem metallischem Geruch. Tsume taumelte, fiel in die Finsternis ... und Blut bespritzte seine zerstörte Welt.

Seitdem war so vieles geschehen. Im Glauben, Mitsuke sei tot, hatte er sich komplett von seinem alten Leben abgewandt, auch, weil er die Scham und den Hass auf sich selbst nicht hätte ertragen können. Er hatte sich ein zweites Ich geschneidert, hatte das Leben eines anderen gelebt, und war irgendwann soweit hinein geschlittert, dass er an sein altes Leben nicht mehr dachte, geschweige denn es noch vermisste.
Aber nun war dieses Leben zu ihm zurückgekehrt, ohne, dass er darum gebeten hatte. Die Narbe auf seiner Brust begann wieder, unangenehm zu pochen. Es war nur sein eigener Herzschlag, aber in diesem Moment schmerzte er mehr als alles andere. Die Narbe würde ihn Zeit seines Lebens an all das erinnern.
Instinktiv hatten er und Mitsuke sich darauf geeinigt, vor den anderen darüber zu schweigen. Wenn nicht einmal sie beide damit umgehen konnten, wie hätten sie es dann dem Rudel erklären können? Aber totschweigen, das wusste Tsume, konnten sie es nicht. Es sollte nicht das einzige Mal gewesen sein, dass er sich dem stellen musste.
Tsume musste sich eingestehen, dass er sogar überrascht gewesen war, dass anschließend nichts weiter passiert war. Sie hatten noch lange dort auf dem Hügel gestanden, in den Anblick der zer­fließenden Sonne versunken, hatten aber kein Wort mehr gewechselt. Keiner hätte die richtigen Worte gefunden, sodass sie einfach geschwiegen hatten. Irgendwann war ihre Verbitterung und seine Wut auf sich selbst verschwunden, verpufft, und übrig war nur eine lastende Trauer geblieben, die sie aber unmöglich miteinander hätten teilen können.
Irgendwie hatte Tsume erwartet, dass Mitsuke ihm alles Leid, das sie durch ihn hatte erfahren müssen, zurückgegeben oder ihn wenigstens angefahren hätte, aber nichts dergleichen war ge­schehen. Doch ihre stumme Anklage machte es für ihn nicht unbedingt leichter. Sie lag zu düster und bedrückend in der Luft, als dass der Wolf sie hätte übersehen können.
Er hatte sich noch nicht bei ihr entschuldigt. Es war nicht seine Art. Eigentlich, so gestand der Graue sich ein, hatte er sich genau das abgewöhnt. Skrupel, Bereuen hatte nie in sein Leben gepasst. Und so brachte er es auch jetzt nicht über sich.

Toboes Magen knurrte. Verärgert runzelte der junge Wolf die Stirn und versuchte, seinen Hunger zu verdrängen. Seit einigen Tagen hatten sie nichts Nahrhaftes mehr zwischen die Kiefer bekommen, und entsprechend hungrig war das Rudel. Die meisten der wenigen Hasen und Schneehühner, die noch nicht an der Kälte des Winters eingegangen waren, entkamen ihnen einfach wieder.
Der Wolf saß im Inneren der Höhle, die noch warm genug war, dass er nicht ständig vor Kälte zittern musste. Draußen heulte wieder ein ständiger Sturm, der scheinbar nie mehr aufhören wollte, und dicke Schneeflocken vernebelten schon nach wenigen Metern die Sicht. Wo blieben bloß die anderen ...
Neben Toboe lagen Asa und Kawa, dicht aneinander gekuschelt, in ihrer Mitte Lain und die kleine Ohisama. Toboes Augen schimmerten traurig. Während des ganzen Weges war noch kein einziges Wort über die Lippen des kleinen Mädchens gekommen, aber erst seit kurzem wusste Toboe, dass sie stumm war. Asa hatte es ihm gesagt. Und er fragte sich, wieso er dies nicht schon vorher be­merkt hatte. Und auch mit Lain stimmte etwas nicht ... Immer noch war das Mädchen nicht zu sich gekommen. Sie lag einfach nur da, stumm, mit geschlossenen Augen, als wäre sie tot. Nur ihr leichter Atem zeigte, dass immer noch Leben in ihr steckte. Kawa machte sich Sorgen, dass konnte Toboe spüren, obwohl die Wölfin versuchte, es zu verbergen. Wie sie so vieles verschwieg, was sie offensichtlich bedrückte. Aber dies anzusprechen, dazu fehlte Toboe der Mut. Kawa war ihm von allen Wölfen die Unheimlichste, obwohl er nicht sagen konnte, warum. Eigentlich war sie sogar immer sehr freundlich, und ihm gegenüber war sie nie aggressiv gewesen ... Vielleicht lag es genau daran, dass sie nie ihre Gefühle offenbare. Die Wölfin machte es ihm schwer, hinter ihre Fassade zu blicken. Sie ließ niemanden hinter diese Mauer, die ihr ganzer Selbstschutz schien. Bloß wovor? Toboe blinzelte und wandte den Blick ab.
Draußen war es inzwischen empfindlich kalt geworden, und selbst ihr dickes Winterfell half den Wölfen nicht mehr. Dieser Winter war strenger als die vorherigen. Und Toboes Ahnung, woran das liegen könnte, gefiel ihm überhaupt nicht.
Inzwischen wünschte der Junge sich, er wäre Kiba nie gefolgt und stattdessen in der Stadt ge­blieben. Dann hätte er nicht aus einem brennenden Labor flüchten oder mit beängstigenden Schattenwölfen kämpfen müssen, und würde nun nicht zusammen mit Wölfen, die er im Grunde gar nicht kannte, in der Kälte hocken, ohne zu wissen, was noch alles auf ihn zukommen würde. Er wäre in Sicherheit. Und er hätte seinen Kater nicht verloren. Was auch immer mit dem Kleinen passiert war.
Toboe schlang sich die Arme um die Schultern, obwohl ihm dadurch auch nicht viel wärmer wurde. Er war bis auf die Knochen durchgefroren, aber ein Feuer konnten sie nicht entfachen. Hier gab es weit und breit kein Holz oder die Möglichkeit, es zu entzünden.
Toboe blickte zu den anderen hinüber. Kiba und Hanpaku waren nun schon längere Zeit weg, und auch Hige war immer noch nicht zurückgekehrt. Toboe konnte nur hoffen, dass ihm nichts zuge­stoßen war.
Er hätte einfach nicht alleine losgehen dürfen. Toboe machte sich Vorwürfe, und das nicht zum ersten Mal. Schon beim Labor hatte er Hige alleine zurückgelassen und in Kauf genommen, dass er in Gefahr geriet, um sein eigenes Leben zu retten. Und nun wieder ... Er hätte ihn aufhalten müssen. Oder wenigstens mitgehen sollen.
Was machten sie nun eigentlich? Seit Tagen hockten sie in der Kälte, hielten sich mit verzweifelten Hasenjagden bei Laune und warteten darauf, dass Hige wieder zu ihnen stieß, damit sie – was machen konnten? Toboe stützte nur den Kopf in die Hände. Wie er Kiba einschätzte, wollte er sicher bald wieder in die Stadt zurück und den Kampf gegen Darcia weiter führen. Aber was war mit den anderen? Sie kannten Darcia im Grunde nicht, wussten nicht, welche Gefahr wirklich von ihm ausging, oder, wie sie ihn besiegen konnten. Geschweige denn ihre Angst vor sich selbst. Sie waren allesamt so plötzlich mit etwas Unvorstellbarem konfrontiert worden, dass sie gar nicht die Zeit gehabt hatten, sich mit diesem Gedanken vertraut zu machen. Und nun sollten sie Kiba einfach blindlings in den Kampf gegen einen Feind folgen, von dem sie nicht einmal genau wussten, warum er ihr Feind war ... Zumindest wussten sie nicht mehr als das, was Kiba ihnen erzählt hatte.
Nicht, dass Toboe an ihm gezweifelt hätte. Instinktiv vertraute er dem weißen Wolf, aus Gründen, die wohl nur Kiba selbst kannte. Aber er hatte nicht vor, sein Leben für eine Sache aufs Spiel zu setzen, bei der er nicht wusste, um was und für wen er kämpfte.
Der braune Wolf kroch aus dem warmen Dunkel der Höhle heraus, vorbei an den beiden schlafenden Wölfinnen, und lehnte sich draußen gegen die Wände des Eingangs, aber dort war niemand. Tsume und Taiin waren schon länger fort, um nach Nahrung zu suchen, und auch Kiba und Hanpaku waren immer noch nicht zurück. Einzig Kage stand vor der Höhle. Die Stute war nicht angebunden, da es weit und breit keine Möglichkeit dazu gab, aber Kawa war sich sicher gewesen, dass ihr Tier nicht fortlaufen würde, und so war es auch. Toboe schlenderte zu der Stute hinüber und fuhr ihr mit den Fingerkuppen über die struppige Mähne, die in rauen Wellen über ihren sehnigen Hals fiel. Ein Hals voller warmer, saftiger Muskeln ... Toboe blinzelte erschreckt. Kage war Kawas Reittier und zudem zu nützlich, als dass sie ihnen als Nahrung dienen könnte. Wie war er bloß auf diesen Gedanken gekommen ... Sein Magen knurrte. Kage stieß ein leises Kollern aus, und der Wolf senkte fast beschämt den Blick. Als hätte das Tier seine Gedanken gelesen.
Leise Schritte drangen über den knarrenden Schnee zu ihnen herüber. Toboe blickte auf und sah zwei Schatten hintereinander auf sie zukommen, der eine schnell und zielstrebig, der andere zögerlich und sogar unsicher, wie es dem Jungen schien. Toboe kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, wer auf ihn zukam, obwohl er hoffte, es schon zu wissen. Einige Sekunden später sagte ihm der Geruch in seiner Nase, dass er Recht hatte. Sein Herz schlug einige Takte schneller. Hige kam zu ihnen zurück. Toboe atmete erleichtert aus. Endlich.
Dann aber richtete der Wolf seinen Blick auf die zweite, schmalere Gestalt, die hinter Hige über den Schnee schnürte. Sie musste die Wölfin sein, von der Hige gesprochen hatte.
„Blue.“
Der Name kam ihm eigentümlich leicht über die Lippen, wie Toboe merkte. Da war es wieder, das Gefühl, jemanden zu kennen, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er wandte sich zur Höhle um und reckte den Kopf in die Wärme.
„Hige ist zurück“, rief er in das Dunkel hinein, wandte sich aber um, ohne auf eine Antwort der Wölfinnen zu warten. Mit einem befreiten Lachen auf dem Gesicht lief er auf die beiden Wölfe zu, die ihm langsamer entgegen kamen. Sie schienen lange Zeit rasch gelaufen zu sein, ihr Atem ging pfeifend. Schließlich standen sie sich gegenüber, und neugierig musterte Toboe die Wölfin, deren schwarzes Fell im Licht der Sonne glänzte. Die schwarzen Haare standen ihr wild vom Kopf ab, und ihre großen Augen strahlten in einem glänzenden Blau. Im Gegensatz zu ihnen erschien die Kleidung der Wölfin, ein kurzer schwarzer Mantel und hohe Lederstiefel, direkt schlicht.
„Ich hab dir doch gesagt, dass ich euch wieder finde“, grinste Hige und schlug ihm freundschaftlich auf die schmale Schulter.
Die Wölfin, die etwas verloren hinter Hige stand, schien sich in ihrer Haut nicht ganz wohl zu fühlen. Sie nestelte an ihrem roten Schal herum, und unaufhaltsam glitt ihr Blick fahrig über die Ebene, als würde sie überall Gefahren vermuten. Hige spürte ihre Unruhe und drehte sich zu ihr um, die Hand beruhigend auf ihre Schulter legend.
„Blue, ich hab dir von ihnen erzählt. Das ist Toboe“, und er nickte ihr aufmunternd zu. Ein be­ruhigendes Lächeln huschte über Blues Züge, das Toboe fast schon liebevoll nennen konnte. Also hatte Hige sich mit seiner Erinnerung tatsächlich nicht getäuscht – die beiden verband vielleicht wirklich etwas, das über Freundschaft hinausging. Bloß wie hatten sie sich so schnell darin einig sein können? Er selber haderte immer noch mit sich und seiner Erinnerung, während die beiden schon miteinander umgingen, als hätte sie nie etwas auseinander gebracht.
Ein etwas unbeholfenes Schweigen entstand, in dem sich die drei Wölfe gegenseitig anstarrten und wohl darauf warteten, dass die anderen etwas sagten. Schließlich stahl sich ein Grinsen auf Blues Gesicht, und mit einem Mal wirkte sie viel selbstsicherer als noch vor wenigen Augenblicken. Ihre lebhaften Augen strahlten ein instinktives Selbstvertrauen aus, und wie sie Higes Blick erwiderte – viel offener als noch vor einem Tag – da wusste der Wolf, dass er nicht nur die Wölfin, sondern auch Blue wieder gefunden hatte. Es war nicht leicht gewesen, es ihr zu erklären, wie viel Wolfsblut tatsächlich in ihr floss, und sie dazu überreden, sich dem Rudel anzuschließen, aber nun konnte Hige sich sicher sein, dass Blue bei ihm bleiben würde. Was auch immer ihn da so sicher sein ließ.
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BeitragThema: KAPITEL 24 - Teil 2   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:37 pm

Taiin schnürte neben Tsume durch den Schnee. Immer noch waren sie auf der Suche nach etwas Fressbarem, und immer noch hatten sie bis auf ein paar Schneehühner, die sie unter einem Stein vergraben hatten, nichts auftreiben können.
Taiin wandte den Kopf und blickte Tsume von der Seite an. Der graue Wolf war schon den ganzen Tag über ungewöhnlich schweigsam gewesen. Nicht, dass Taiin selbst es nicht auch war, aber inzwischen fiel Tsumes seltsames Verhalten auch ihm auf. Der Wolf blieb stehen und starrte den Grauen entschlossen an. Tsume wandte sich um und blickte ungeduldig zu Taiin zurück. Ein eisiger Zug fuhr diesem über sein braunes Fell, dass er fröstelte.
„Was ist denn nun?“, knurrte Tsume etwas ungehalten, aber Taiin schüttelte den Kopf.
„Sag mir erst, was los ist“, entgegnete er mit ruhiger, aber bestimmter Tonlage. Tsume zog die Augen zusammen, antwortete aber nicht. Und Taiin wusste, er hatte seinen wunden Punkt getroffen.
„Was soll denn sein?“ Die Stimme des Grauen klang mürrisch. Taiin sagte nichts, starrte nur wortlos zurück. Tsume knurrte unwillig und wandte sich zum Gehen um, aber mit einem Satz versperrte Taiin dem Wolf den Weg.
„Ich verstehe nicht viel von dem, was hier vorgeht“, grollte der Braune und starrte Tsume dabei in die gebleckte Schnauze, „aber ich weiß, dass wir bei dem hier zusammen halten müssen.“
„Und wieso sagst du das mir? Du bist doch der große Schweiger“, knurrte Tsume zurück, doch er wusste, was Taiin meinte – und auch, dass er Recht hatte. Er wandte sich ab.
„Ich will darüber nicht sprechen, klar?“, raunzte er und kam sich in seiner eigenen Wut lächerlich vor. Aber er musste seine Zähne aufeinander beißen, um sich nicht anmerken zu lassen, was in seinem Inneren vorging. Es war so schon schwer genug, nicht ständig daran zu denken. Die Wut auf sich selbst zehrte den Wolf von Innen heraus auf. Seit diesem Abend hatten Tsume und Mitsuke kein Wort miteinander gewechselt – sie hatten es beide nicht über sich bringen können. Und er konnte nicht sagen, dass dies spurlos an ihm vorbeiging, auch wenn er es sich noch so sehr wünschte.
„Ich kann nicht“, war das einzige, was er auf Taiins Frage antworten konnte, und es war noch nicht einmal eine Lüge. Der Braune schwieg, und eine steile Falte grub sich in seine Stirn, als er Tsume bedrückt anblicke. Er konnte nur spüren, wie der andere sich fühlte, aber ihm nicht helfen.
„Deine Entscheidung“, erwiderte er und ließ seinen Blick über die karge Landschaft streifen. „Ich könnte es nicht.“
Und auch wenn Taiin nicht wohl bei der Sache war – sie beließen es dabei. Immerhin reichte das schwache Tageslicht noch aus, dass sie genug erbeuten konnten, um das Rudel für diesen Abend satt zu kriegen.
Nach Einbruch der Dämmerung stießen schließlich auch Hanpaku und Kiba wieder zu den Wölfen. Beide waren noch schweigsamer als sonst, aber während sich Hanpaku wie selbstverständlich zu Asa gesellte, als wäre er nicht stundenlang verschwunden gewesen, ließ sich Kiba etwas abseits der anderen nieder und starrte wie betäubt in den Abend hinein, ohne das Rudel auch nur eines Blickes zu würdigen.
Toboe zögerte nur kurz und wollte schon zu ihm herüber gehen, als er Hanpakus Blick auf sich ruhen spürte. Fast unmerklich schüttelte der alte Wolf den Kopf und signalisierte ihm stumm, den Weißen in Ruhe zu lassen. Toboe verstand zwar nicht, warum, aber er wollte nicht wieder etwas Falsches machen, also hockte er sich stillschweigend wieder neben Hige hin, der Seite an Seite mit Blue neben Kawa saß. Tsume und Taiin standen hinter ihnen und hatten sich nebeneinander gegen die Höhlenwände gelehnt. Die beiden Wölfe sprachen zwar nie viel miteinander, aber sie schienen sich zu verstehen, auch ohne große Worte.
„Lassen wir ihn für heute allein“, meinte Hanpaku, und die anderen hörten es seiner Stimme nicht an, wie sehr der alte Wolf sich in diesem Moment selbst danach sehnte, allein zu sein. Asa wandte den Kopf und blickte ihn stumm an, und in ihren Augen konnte der alte Wolf lesen, dass sie wusste, wie ihm zumute war. Sie war die einzige Verbindung zu seinem anderen Leben, aber sie gab ihm doch ein Gefühl der Vertrautheit in einem völlig fremden, anderen Sein.
„Ich dachte mir, ich komme vielleicht nicht mit in die Stadt“, murmelte Toboe in die Stille hinein, die daraufhin noch leiser wurde. Alle Wölfe blickten ihn an, und der Junge senkte den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Kiba den Kopf hob und zu ihnen herüber blickte.
„Ich weiß, ihr könnt das nicht verstehen ... Aber ich hätte nie mitkommen sollen. Ich kann sowas nicht.“ Vorsichtig blickte Toboe in die Runde. „Gegen jemanden kämpfen, den ich nicht mal kenne.“
Tsume legte den Kopf schief und blickte den braunen Wolf geringschätzig an. „Du hast Angst, das ist alles.“
Toboe blickte verärgert auf und starrte den Grauen wütend an. „Ich habe keine Angst, ich will das nur nicht.“ Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust – und wusste doch, dass Tsume Recht hatte.
Kiba erhob sich und kam zu ihnen herüber. Ohne erkennbare Regung ging er vor Toboe in die Hocke und blickte dem jungen Wolf ruhig in die Augen. Höchstens eine leise Trauer spiegelte sich in seinen türkisfarbenen Augen.
„Bist du dir da sicher?“, fragte er nur. Und Toboe konnte nicht anders, er nickte.
„Ich kann nicht kämpfen. Ich will das auch gar nicht. Ich will nur zurück in die Stadt.“
„Aber in der Stadt ist Darcia. Dort ist es nicht mehr sicher.“
„Dann bleibe ich halt hier.“
Kiba atmete tief ein und richtete sich dann auf. Toboe fürchtete schon, dass der weiße Wolf wütend auf ihn sein könnte, aber keine Regung zeigte sich in seinen Zügen. „Du willst hier alleine zurückbleiben?“
Toboe zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Ich kann nicht mit. Dann muss ich wohl hierbleiben.“
„Wieso bist du dann überhaupt mitgekommen?“, kam Tsumes schneidende Stimme aus seinem Rücken, und Toboe zuckte zusammen. Tsume wollte seinen Groll nicht gegen den Jüngeren richten, aber er konnte nicht anders. Bevor die Spannung zwischen ihnen jedoch eskalieren konnte, erhob sich Asa rasch und blickte Kiba an.
„Ich kann bei ihm bleiben. Das ist sowieso das beste.“ Sie blickte zu Hanpaku herunter, der nur stumm ihren Blick erwiederte. „Für Ohisama ist es zu gefährlich.“ Fast schien es, als wäre die mehr eine Entschuldigung an Hanpaku als eine Erklärung an das Rudel.
„Ihr werdet es auch ohne uns schaffen. Das weiß ich.“
Kiba schaute sie wortlos an, nickte dann aber und ein müdes Lächeln hellte sein Gesicht auf. „Das werden wir.“
„Kawa“, sagte Asa mit ruhiger Stimme und wandte sich an die Wölfin, die das Ganze bisher nur schweigend verfolgt hatte. Mitsuke zuckte zusammen, als sie den Namen hörte, der nicht ihrer war.
„Es wäre auch für Lain besser, wenn sie hierbliebe. In der Stadt läuft sie nur Gefahr, wieder in Darcias Hände zu fallen.“
Die braune Wölfin blickte in Richtung der Höhle, in der das Mädchen lag, nach wie vor schlafend. Auch wenn sie Lain lieber bei ihr gewusst hätte, so wusste sie doch, dass Asa Recht hatte.
„Ja.“ Mehr brachte sie nicht hervor. Ihre Stimme wurde von Schmerz und Wut erstickt, und um sich diese Schwäche nicht anmerken zu lassen, blieb die Wölfin wortkarg.
Asa sah sie an, und in ihrem Blick laß Mitsuke unter ihrer Trauer auch den starken Willen zu Über­leben schimmern. Asa wusste, wie es ihr erging, auch wenn sie nicht ahnen konnte, warum. Und vielleicht konnte sie genau daraus neue Kraft gewinnen.
„Wir werden hier auf euch warten“, sagte Asa, und ihrer ruhigen Stimme hörte man nicht die Gewissensbisse an, die sie plagten, weil sie Hanpaku alleine gehen ließ. Sie hatten sich geschworen, dass nichts mehr sie auseinander bringen würde, nach dem, was passiert war. Aber nun war es das beste.
Toboe nickte schließlich auch, und obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, war er unendlich froh über Asas Entscheidung. Und darüber, dass er den Mut gefunden hatte, es anzu­sprechen. Gleichgültig, was die anderen nun von ihm dachten.

Sie wussten alle, dass es unklug war – und gefährlich. Aber trotz all ihrer Zweifel und Ängste und trotz der Bedrohung, in die sie bereits hineingeraten waren, hatten sich die verbliebenen Wölfe bereits dazu entschlossen, wieder zur Stadt zurückzukehren und den Kampf gegen Darcia wieder­aufzunehmen. Nicht, weil sie wirklich gewusst hätten, warum sie ihn bekämpfen mussten, oder was genau damals passiert war. Ihre Erinnerungen waren immer noch mehr als lückenhaft, und die wenigen Bruchstücke, die mit jedem neuen Tag dazu kamen, gestalteten das Puzzle eher noch viel komplizierter, als dass sie ein weiteres Steinchen hinzugefügt hätten. Besonders Blue hatte damit zu kämpfen, da die anderen viel mehr Zeit gehabt hatten, sich mit diesen Gedanken und der Wahrheit vertraut zu machen, während sie kaum Gelegenheit hatte, überhaupt zu begreifen, von wem die Gefahr ausging und wie diese aussah. Einzig Hige hielt sie zurück, auf der Stelle wieder Kehrt zu machen und zu dem Gehöft der Menschen zurückzukehren: zu Quent Yaiden, wie sie inzwischen wieder wusste. Es war kein Wunder gewesen, dass ihre Pfoten sie nach dem Brand im Labor direkt zu ihm geführt hatten, das wusste Blue jetzt, genauso wie sie sich nun ihres Wolfsblutes bewusst war. Und irgendwie war sie sogar froh darüber.
Was auch immer den Wölfen Verstand und Instinkt sagten – am nächsten Morgen führten sie ihre Pfoten und Kages Hufen wieder Richtung Stadt, fort aus dem unwirklichen Brachland.
„Pass auf Ohisama auf“, waren die Worte, mit denen Hanpaku sich von Asa verabschiedete, und es waren die Worte, mit denen er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte. Es fiel ihm schwer, die Wölfin allein zurück zu lassen, auch wenn sie letztlich nicht wirklich alleine war. Aber die Erinnerung an ihren Tod war noch zu real, zu greifbar, als dass der Wolf sie hätte vergessen können. Damals hatte er sie auch alleine gelassen, kurz nur, aber doch lange genug, um Darcia die Gelegenheit zu geben, ihr das Leben aus dem Körper zu reißen ... Er wollte das nie wieder miterleben müssen. Asa nickte, und stumm wandte sie sich ab. Die Wölfin wusste, was er ihr hatte sagen wollen. Aber ein einziges Wort, ein weiterer Augenblick hätten gereicht, um es ihr unmöglich zu machen, nicht mitzugehen.
Was sie nicht wussten, war, dass die zurückgebliebenen Wölfe in der Einsamkeit der Schneewüste keineswegs vor Darcias Macht in Sicherheit waren. Kaum waren ihre Pfotenspuren über den ersten Hügeln verschwunden, schlug der Tod in der Wärme der Höhle seine Augen auf – und kroch aus dem Dunkel ans Tageslicht, um den frühen Morgen mit Blut zu tränken.
Erst als es zu spät war, begriff Asa. Sie waren blind gewesen. Nur eine weitere von Darcias Fallen, aber diese hatten sie nicht gesehen. Um Hanpaku wegen tat ihr das Leid.
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BeitragThema: KAPITEL 25   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:37 pm

Mit einem berauschenden Gefühl der Macht richtete Darcia sich über der wehrlosen Gestalt auf und hob seine zur Klaue geballte Hand erneut zum Schlag. Ein harter Knall peitschte durch das Dunkel der kleinen, feuchten Kammer, und feine Blutstropfen benetzten seine marmorweiße Haut. Nicht sein Blut. Nicht seine Qualen. Nicht sein Körper, der dort im feuchten Schimmel lag und sich vor Schmerzen wand.
„Merk dir das!“, rief er, und ein irres Leuchten geisterte durch seine dunklen Augen, die im flackernden Licht der Öllampe schwarz glänzten. „Du wirst sie in den Tod führen. Du wirst schuld sein an ihrem Leid.“ Seine Augen weideten sich an dem Bild des Elends und der Furcht, das den schwachen Körper zu seinen Füßen umwaberte. Dieses Mädchen, so wehrlos, verschwitzt bis auf die Haut und an Armen und Beinen mit blutenden Wunden übersät ... Für die Tochter einer Wölfin war sie ein jämmerliches Wesen ohne Mut, das kaum Gegenwehr leistete. Lain war schwächlich ... Aber sie würde ihren Zweck erfüllen. Den Zweck, den eigentlich Cheza hätte erfüllen müssen. Aber nur darum ging es. Dieses Mal würde es ihm ein für alle mal gelingen. Und er würde sich nicht von einem Haufen Wölfe aufhalten lassen, die noch nicht einmal wussten, wer sie waren.
„Bitte ... nicht“, wimmerte das Mädchen und hob die Arme schützend über seinen Kopf, als der nächste Schlag auf sie niedersauste. Der Schmerz explodierte auf ihrer wunden Haut und riss ihr einen Streifen Haut vom Fleisch. Ein leidender Schrei entfloh ihrer Kehle, den sie aber sofort niederkämpfte. Wenn sie schrie, schlug er nur umso fester zu. Statt noch einen Laut von sich zu geben, rollte Lain sich nur enger zusammen und machte sich auf den nächsten Schmerz gefasst. Es brachte nichts, wenn sie sich wehrte. Er war eh stärker. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die furchtbaren Schmerzen zu ertragen und zu hoffen, dass dieses Leid bald ein Ende hätte ... auch welche Weise auch immer.
Aber dieses Ende ließ auf sich warten. Seit Tagen litt Lain nun schon Qualen. Immer wieder kam Darcia zu ihr in die Zelle. Manchmal verhöhnte er sie nur, ergoss sich in beißendem Spott, aber öfter holte er aus und ließ seine Raserei wie wild an ihr aus. Heute war wieder so ein Tag.
Es war still geworden. Das Mädchen lag zusammengekauert in der Ecke, und die strähnigen Haare verdeckten ihr zerkratztes Gesicht, sodass er die Furcht in ihren Augen nicht sehen konnte. Aber er spürte sie, deutlicher als alles andere. Darcia lehnte sich zufrieden gegen die kalte Mauer schaute nachdenklich auf Lain herab. Sie wimmerte nicht einmal mehr, war wohl selbst dazu zu erschöpft. Oder bereits ohnmächtig. Darcia atmete befreit auf. Das unglaubliche Verlangen nach Lain war zumindest für diesen Moment gestillt worden. Ihr wehrloser, blutender Körper weckte stets eine Be­gierde in ihm, die ihn für einige kostbare Augenblicke vergessen ließ, warum er das alles überhaupt tat. Daran wollte er nicht mehr denken. Aber er brauchte ein Ventil, um seinen unbändigen Zorn an etwas Lebendem auszulassen, und Lain war das perfekte Opfer. Wie geschaffen dafür, für seine Gewalt hinhalten zu müssen.
Erschöpft fuhr Darcia sich mit den Fingern durch das lange, glänzende Haar. Schweißperlen rannen ihm die hohe Stirn hinunter. In der dunklen, engen Zelle war es drückend feucht und stickig. Das Mädchen zu drangsalieren war kraftraubend, aber es stillte seinen Durst nach Zerstörung.
Mit einem abfälligen Schnauben machte Darcia auf dem Absatz Kehrt und riss die schwere Eisentür auf. Einen Moment blieb er auf der Schwelle stehen und lauschte auf das leise Keuchen, das hinter ihm aus der Dunkelheit erklang. Ein böses Lächeln schlich sich auf seine schmalen Lippen. Darcia trat mit dem Fuß nach der Öllampe, dass sie mit einem Poltern umfiel und erlosch. Dann fiel die Tür mit einem dumpfen Schlag hinter ihm gegen den Stein und ließ Lain in tiefster Finsternis zurück. Darcia kümmerte das Wohl seiner Gefangenen wenig. Solange sie nicht starb, war es ihm gleichgültig, wie viel sie aushalten musste. Je mehr, desto besser für ihn.
Draußen auf dem Gang warteten bereits die Schatten, um ihre Wache vor der Zelle zu übernehmen. Darcia würdigte sie keines Blickes, schritt nur wortlos an ihnen vorbei den düsteren Gang hinunter. Unter der Erde drang kein Lichtstrahl mehr zu ihnen herunter, und so waren die einzigen Lichter in seinem finsteren Reich flackernde Fackeln, die zuckende Gestalten an die alten Mauern warfen. Stets herrschte in den Gängen Totenstille, und so war es auch jetzt. Eine Stille, die durch alle Mauern drang.

Trotzdem hörte Lain die langsamen, schweren Schritte, die bedächtig den Gang hinunter schritten. Zitternd kauerte sie in der Schwärze der Zelle, die so undurchdringlich war, dass das Mädchen nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnte. Ihr ganzer Körper war ein einziges Feuer, in dem der Schmerz sie zu Asche verbrannte. Darcias Klauen hatten ihr die Haut wund und blutig gerissen.
Ekel erfüllte Lain. Vor Darcia, vor ihm auch, aber vor allem vor sich selbst. Sie war schrecklich hilflos. Dem Schmerz ausgeliefert. Machtlos, seiner Raserei zu entfliehen. Doch immer, wenn sie in ihrer eigenen Hilflosigkeit zu ertrinken drohte, gab es da auch noch etwas anderes, das ihr die Kraft gab, die Marter auszuhalten. Und, was sie selbst nicht verstand, ihre Wunden auf unnatürlich schnelle Weise heilen ließ. Nur wenige Stunden mussten vergehen, und schon heilte ihre Haut mit beängstigender Geschwindigkeit, wo sie von Darcias Klauen aufgerissen worden war. Anfangs hatte Lain ihr eigener Körper Angst eingejagt, aber inzwischen fand sie es nur noch befremdlich, dabei zusehen zu können, wie sich die Wunden innerhalb weniger Stunden wie von selbst schlossen. Und sie war froh darüber. Andernfalls, so fürchtete sie, hätte sie die Qualen womöglich nicht ausge­halten.
In der finsteren Zelle, in die man sie geworfen hatte, hatte das Mädchen auch genug Zeit, um über das nachzudenken, was in den letzten Tagen passiert war. Auch, warum sie nun hier auf dem kalten, feuchten Boden kauerte und ständig mit der Angst leben musste, Darcia könnte jederzeit zurück­kehren. Doch selbst wenn diese Furcht wieder in ihr hochkam ... Da gab es noch etwas anderes. Etwas, das ihr beinah mehr Angst einjagte als die Vorstellung von Darcias erhobener Klauenhand. Eine Art blinder Zorn, der noch von ihrem maßlosen Grauen unterdrückt wurde. Aber mit jedem weiteren Schlag, jeder weiteren Wunde, das spürte Lain, wurde dieses verborgene Glühen in ihr stärker. Das Verlangen, aus ihrer Starre zu erwachen und dem ganzen Schmerz zu entfliehen – koste es, was es wolle. Bloß, dass diese Wut immer erst dann in ihrer Brust aufstieg, wenn Darcia schon lange verschwunden und die schwere Eisentür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Dann, wenn sie ihr gar nichts mehr nützte.
Lain drückte sich gegen die Wand, als könnte sie ihr Halt geben vor etwas, das sie nicht verstand. Aber da war nur Kälte in ihrem Rücken und ein klebriger Film ... Angewidert zuckte das Mädchen von der Mauer zurück und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Blut. Ihr Blut.
Zitternd sank Lain in sich zusammen und vergrub den Kopf in ihren Händen. Nun kamen die Tränen. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Heiß und voller Zorn und Schmerz rannen sie ihr die zerkratzten Wangen hinunter und tropften stumm auf den feuchten Boden, stumm wie ihre Verzweiflung. Was geschah mit ihr? Was war schief gelaufen? Sie hätte in ihrem Dorf bleiben sollen ... Wie Kawa es ihr befohlen hatte.
Kawa. Bei dem Namen der Wölfin zog sich etwas in ihr zusammen. Sehnsucht. Vertrauen. Und ein Fünkchen Hoffnung. Sie war auf dem Weg zu ihr. Sie musste es einfach sein. Sie war immer wieder zu ihr gekommen und hatte ihr geholfen. Doch mit jeder weiteren Stunde in der Dunkelheit, jeder weiteren Schmerzattacke wurde ihre Hoffnung ein Stück kleiner. Und der Zorn in ihr stärker.
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BeitragThema: KAPITEL 26   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:38 pm

Schweigend schlichen die Wölfe durch die leblosen Gassen, die so eng waren, dass sie hinterein­ander gehen mussten. Seit sie die Stadt erreicht hatten, folgte das Rudel Kiba, der sich von seiner Nase führen ließ. Der Geruch nach Gefahr lag in der stickigen Luft, die im Vergleich zu den niedrigen Temperaturen außerhalb der Kuppel im dichten Fell der Wölfe fast brannte, und wurde mit jedem weiteren Schritt immer intensiver.
Kiba lief an der Spitze und versuchte, die feuchten, moosüberwachsenen Mauern rechts und links neben ihm möglichst nicht zu streifen. Die Stille um ihn herum machte ihn langsam unruhig. Die Ahnung einer Falle, diese unausgesprochene Gefahr reizte seine Sinne und schärfte sein Gehör auf unnatürliche Weise. Dennoch hörte der Wolf nichts außer dem harten Schlagen eines Fenster­rahmens gegen das tote Gemäuer. Sonst rein gar nichts. Die Stille war beklemmend. Sie lastete schwer vor Tod und Verfall und einer finsteren Ahnung. Ein Schauer rann dem Wolf über den Rücken.
Das Rudel hinter ihm gab keinen Laut von sich. Alle schlichen sie auf weichen Sohlen durch die düsteren, wie ausgestorbenen Gassen, und horchten mit gespitzten Ohren in die drückende Leb­losigkeit hinein. Es war weniger die Tatsache, dass sie kein einziges Lebewesen sahen, das sie unruhig machte, sondern mehr der fehlende Lärm der Stadt, der sonst über allem lag. Nichts war zu hören. Nicht das Lachen aus Menschenkehlen, nicht das Bellen der wilden Hunde, kein Fauchen von Katzen, nicht einmal die tiefen Rufe der Tauben am smoggetränkten Himmel. Nichts Lebendes. Nur immer wieder das morsche Holz des Fensterrahmens.
Kibas Füße machten wie von selbst Halt. Er drückte sich in den Schatten der Mauern und bedeutete den anderen, stehen zu bleiben. Sie hatten das Ende der schmalen Gasse erreicht und blickten nun auf eine freie Fläche hinaus, die sich kahl und steril über ein großes Areal erstreckte.
Kibas Augen zuckten unruhig über den leergefegten Platz. Erst einige Hundert Meter weiter mün­dete die freie Fläche wieder in bebautes Gebiet, und dazwischen lag eine riesige, wie ausgeschlach­tet wirkende Wüste aus Beton, auf der zersplitterte Felsbrocken und verbogener Schrott wie Spiel­zeug verstreut lagen. In der Mitte jedoch erhob sich die massige Gestalt eines urzeitlich anmutenden Fabrikgebäudes: ein wahrer Koloss aus Stein und Stahl, der schon viele Jahrzehnte auf seinen Ge­mäuern zu tragen schien. Metallene, schwarz angelaufene Rohre wanden sich wie feiste Schlangen um die Außenmauern, und die breiten Schlote von Hochöfen wuchsen mit harten Schatten in den falschen Himmel der Kuppel hinauf. Rost hatte sich wie ein wuchernder Algenteppich über das Ge­mäuer gelegt. Kiba trat einen Schritt zurück und schüttelte abwehrend den Kopf. Das alte Gebäude strahlte geradezu Feindseligkeit aus. Wenn er auf seinen Instinkt hätte hören können, hätte er auf der Stelle Kehrt gemacht.
Kiba konnte es nicht ahnen, aber bei dem Gebäude handelte es sich um eine alte Fabrik aus den Zeiten vor der Stahlkrise, die vor nicht ganz Hundert Jahren ein Auslöser unter vielen für die Armut und das Elend gewesen war, die die Menschen und ihre Städte seitdem im Griff hielten. Stahl war damals fast so viel wert gewesen wie Gold und war überall auf dem Planeten mit Methoden gewonnen worden, die katastrophale Folgen für die Natur und die Atmosphäre gehabt hatten. Auch wenn die giftigen Dämpfe, die bei der Herstellung des begehrten Metalls inzwischen längst in den Luftschichten verweht waren, so waren doch noch Rückstände im Inneren des Gebäudes zurück­geblieben – sie hafteten an Walzen und Förderbändern, Lagergruben, Luftschächten und leeren Bottichen. Überall war ein Hauch der gefährlichen Chemikalien übrig geblieben und hatte das letzte Jahrhundert überstanden, ohne komplett zu vefliegen. Doch die Wölfe ahnten nichts von der Gefahr, die im Inneren der alten Mauern auf sie lauerte. Sie spürten nur eine seltsame Präsenz, eine Art finstere Aura, die von dem Gebäude ausstrahlte und ihnen für Sekunden die Glieder lähmte. Kalte Furcht kroch in ihre Herzen und ließ sie unbewusst einen Schritt zurücktreten. Aber ein Blick von Kiba reichte, um sie wieder in die Realität zurückzuholen. Sie durften sich nun nicht verraten. Jetzt nicht mehr.
Kiba überlegte, wie sie die freie Fläche bis zur Halle möglichst schnell überqueren konnten, ohne entdeckt zu werden. Aber bis auf die Schrotteile und Felsbrocken gab es nichts, wohinter sie sich hätten verbergen können. Der Wolf verzog die Mundwinkel. Er wusste, dass Darcia ihre Ankunft er­wartete, und rechnete nicht damit, dass es keine Fallen gab. Sein Blick suchte die Mauern nach Nischen oder verborgenen Winkeln ab, in denen Sensoren oder Geschosse versteckt liegen könnten, aber er fand nichts. Dennoch spürte er, dass irgendetwas auf sie lauerte und nur darauf wartete, dass sie aus dem Schutz der Gasse in die Schusslinie hinaustraten.
Leise trat Taiin hinter Kiba und legte ihm die Hand auf die Schulter. Kiba wandte den Kopf und blickte den Wolf fragend an. Taiin nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und wies den Weißen an, mit ihm den Platz zu tauschen. Im ersten Moment verstand Kiba nicht, aber als ihm dann die Absicht des anderen klar wurde, schüttelte er nur entschieden den Kopf. Sein harter Blick sprach Bände. Taiin wollte die Zielscheibe für Darcias Falle spielen, die unweiger­lich zuschnappen würde, wenn er den Schutz der Schatten verließ. Aber Kiba konnte nicht zulassen, dass der Wolf sein Leben riskierte.
„Finde die Fallen“, war alles, was Taiin noch sagte, so leise, dass Kiba ihn kaum verstand. Ehe er ihn zurückhalten konnte oder die anderen Wölfe begriffen hatten, was Taiin vorhatte, machte der Wolf einen einzigen, mächtigen Satz und sprang aus dem schützenden Schatten auf die freie Fläche hinaus. Entsetzt wich das Rudel in die Tiefe der Gasse zurück und drängte sich panisch zusammen, als mit einem Mal ein gleißend heller Lichtblitz ihre Augen blendete und sich wie mit glühenden Eisen in ihre Köpfe bohrte. Auch Kiba zuckte im ersten Moment zurück, kämpfte seine Panik aber schnell nieder und sprang wieder vor, nur um mit ansehen zu müssen, wie Taiin im Schein von wirbelnden, blutroten Lichtschwertern um sein Leben kämpfte. Er schrie auf.
„Taiin! Komm zurück!“, brüllte er gegen die Explosionen an, aber der andere konnte oder wollte ihn nicht hören. So konnte das Rudel nur hilflos zusehen, wie Taiin einen mörderischen Tanz auf­führte, sich im harten Schein der Lichtblitze immer wieder zur Seite warf. Er bog sich nach rechts, er bog sich nach links, und immer wieder entkam er den tödlichen Lichtstrahlen, die alles auf ihrem Weg versengten. Die Geschosse fegten mit irrwitziger Geschwindigkeit über den Platz und hinter­ließen überall schwarze, rauchende Risse im Beton. Fassungslos konnten die Wölfe nichts anderes tun, als Taiins verzweifelten Sprüngen zuzusehen, seinen Pfoten, die um die eigene Achse wirbel­ten, seinen hastigen Bewegungen, die bald schon immer fahriger und langsamer wurden. Taiins Keuchen ging im Lärm der rotierenden Lichtkränze unter, aber sie konnten seine Erschöpfung spüren ... Und waren doch unfähig, ihm zu helfen.
Kiba sah, was mit Taiin geschah, aber im ersten Moment begriff er es nicht. Alles in ihm schrie auf – vor Verzweiflung über Taiins Dummheit, aber auch vor Hass auf Darcia, der für den Tod des Braunen verantwortlich sein würde, wenn nicht bald etwas geschah. Es war ein lebensmüder Tanz, den Taiin dort aufführte, ein Duell mit dem Selbstmord. Und Kiba konnte es nicht länger mit ansehen.
Taiin strauchelte. Der Lichtstrahl hatte ihn plötzlich und unvorbereitet getroffen. Seine Pfoten verhakten sich und. Vom eigenen Schwung und der der Explosion in seinen Rücken getragen, stürzte der Wolf schwer auf dem harten Boden auf. Mit einem harten Ruck flog sein Kopf in den Nacken, und für einen furchtbaren Augenblick hörte der Wolf ein ekelerregendes Knacken, das seinen Rücken hinaufraste – die Wirbel. Er riss die Kiefer zu einem Schmerzensschrei auf, aber nur ein atemloses Fauchen drang aus seiner blutigen Kehle. Dann erwachte plötzlich ein schrecklicher Schmerz in seiner Flanke, und ohne den Kopf heben zu müssen, wusste Taiin, dass das Licht ihn getroffen hatte. Unfähig, sich noch einmal zu rühren, ließ er den Kopf kraftlos auf den Beton fallen, gleichgültig, ob ihm der Schmerz des Aufpralls nun in der Stirn explodierte oder nicht. Er konnte nicht mehr. Der grauenhafte Schmerz in seiner Seite raubte ihm den Atem. Er konnte nur hoffen, dass Kiba und die anderen einen anderen Weg ins Innere finden würden.
Ohne lange zu überlegen, sprang der weiße Wolf vor. Hinter ihm erklangen panische Rufe, aber er hörte sie kaum. Um ihn herum war nichts als Licht, leuchtend rote Blitze, die seine Augen mit Blut tränkten. Wenige Meter vor ihm lag Taiin auf der Seite ... an seiner Flanke ein tiefer, blutender Riss, von dem in dünnen Schwaden immer noch Rauch aufstieg. Nun, wo der Wolf sich nicht mehr regte, reagierten die Strahlen nicht mehr auf ihn, womit er vorerst in Sicherheit war. Dafür stand aber nun Kiba unter Beschuss und musste selber um sein Leben kämpften.
Dann war er über Taiin, senkte sich über seinen leblosen Körper und packte den leblosen Wolf kurzentschlossen am Nacken. Direkt vor seinen Pfoten schlug ein sirrender Lichtblitz ein und schleuderte heiße Steinsplitter in die Höhe, aber Kiba bekämpfte seine Panik und zerrte den verwundeten Wolf am Nackenfell in die Richtung, in der die Gasse liegen musste. Im verwirrenden Blitzgewitter der Lichtschwerter hatte er schon längst jeglichen Sinn für vorne und hinten verloren. Kiba konnte nur hoffen, dass er nicht in die falsche Richtung rannte.
Mit einem lauten, peitschenden Schlag krachten zwei weitere Lichtblitze neben ihm in den Boden und schmolzen die Betondecke einfach dahin. Zwei sternförmige Krater brachen zu seinen Pfoten auf und sandten eine Erschütterung aus, gefolgt von einem furchtbaren Hitzeschwall, dass Kiba zur Seite geschleudert wurde und so unglücklich auf den Hinterbeinen landete, dass er nicht mehr rechtzeitig hochkam, um einem weiteren Strahl ausweichen zu können. Die Hitze des Blitzes ver­sengte Fell und Fleisch und nagelte Kiba für qualvolle Atemzüge an den geschmolzenen Boden, be­vor der Wolf schwankend wieder auf die Beine kam. Im wilden Rhythmus seines Herzschlages spritzte Blut aus der versengten Wunde an Brust und Nacken und tränkte sein strahlend weißes Fell. Auch aus der Stirn quoll Blut in raschen Strömen und tropfte Kiba in die Augen, sodass er den roten Schleier ständig fortblinzeln musste.
Das warnende Bellen der anderen Wölfe drangen an sein Ohr und erinnerten Kiba daran, dass er nicht stehenbleiben durfte, auch wenn er dann vorübergehend sicher gewesen wäre. Er musste aus dem Schussbereich der Lichtkränze heraus, erst dann konnte er sich fallen lassen ... Er musste es einfach schaffen. Wenn er jetzt versagte ... er ... Darcia würde ...
Die Wucht einer weiteren Explosion riss ihn von seinen Pfoten.
Zwei kräftige Kiefer packten den Wolf am Nacken und an den Läufen und zerrten ihn die letzten Meter in den Schatten der Gasse, wo er vor den Blitzen in Sicherheit war. Kiba bekam kaum mit, was um ihn herum geschah. Er hörte nur, dass das Krachen der Einschläge mit einem Mal aufhörte, verstummte, und einer befremdlichen Ruhe wich.
Mühsam öffnete Kiba die Augen und blinzelte fahrig.
Das Blut brannte ihm in der Iris, aber er konnte trotzdem das Rudel erkennen, das sich im Kreis um ihn aufgebaut hatte. Direkt vor ihm stand Hanpaku und blickte mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen auf ihr herab. Sorge lag darin, Furcht, Unverständnis, und auch ein leises Aufblitzen von Zorn. Kiba wollte sich aufraffen, um seinem durchdringenden Blick zu entgehen, aber seine versengten Muskeln wollten ihm immer noch nicht gehorchen. Mit einem überraschten Keuchen prallte der Wolf wieder auf den Boden und blieb reglos dort liegen. Er hatte nicht mehr die Kraft, auch nur einen Muskel zu rühren.
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BeitragThema: KAPITEL 26 - Teil 2   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:39 pm

Hanpaku grollte, aber es klang eher nachsichtig als zornig, und Kiba wollte schon erleichtert die Augen schließen, als ihm siedend heiß Taiin einfiel, der immer noch in der Schusslinie der Blitze lag. Knurrend vor Schmerzen richtete der weiße Wolf sich mühsam auf den Vorderbeinen auf, aber sanft drückte Hanpaku ihn mit einer Hand wieder zu Boden. Der alte Wolf schüttelte den Kopf, und ein trauriges Glitzern stand in seinen Augen.
„Nein. Es hat keinen Sinn.“
Kiba bleckte dem Älteren respektlos die Zähne ins Gesicht und wollte an ihm vorbei springen, aber seine Pfoten gehorchten ihm nicht. Bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, richtete Hanpaku sich schon über ihm auf und versperrte ihm den Weg. Das Glitzern war aus seinen Augen verschwunden und war einem drohenden Funkeln gewichen.
„Ich habe gesagt, es bringt nichts mehr.“
Seine Stimme war leise, aber bestimmt. Kiba senkte den Kopf und blickte auf die Fläche zu Taiins regloser Gestalt herüber, die zwischen den rauchenden Kratern auf der Seite lag. Wie tot lag er dort keine zwei Sprünge entfernt in einer Lache seines eigenen Blutes, und Kiba konnte ihm nicht helfen. Zwei Sprünge. Aber Hanpaku hatte Recht, das wusste er. Jeder neue Versuch, Taiin zu retten, wäre Selbstmord gewesen. Der Braune hatte es selbst so entschieden. Niemand hatte ihn gezwungen, das zu tun. Aber vielleicht war sein Opfer auch nicht völlig umsonst ... Immerhin wussten sie nun, welchen Weg zum Gebäude sie nicht nehmen konnten. Aber dieses Wissen war es nicht wert gewesen, dass Taiin dabei hatte sterben müssen.
„Ist er tot?“, kam die Frage heiser über Kibas Lefzen. Die anderen schwiegen bedrückt, und Hanpaku senkte den Kopf, um ein Nicken anzudeuten. So konnte der weiße Wolf das schlechte Gewissen in seinen Augen nicht lesen. Er hätte dafür Sorge tragen müssen, dass Taiin diese Dummheit nicht hätte tun können. Aber er hatte nicht aufgepasst. Für einen Augenblick. Kiba konnte er keine Schuld zuschieben. Sie lag allein bei ihm. Denn nur er wusste, was passieren würde, wenn der erste ihres Rudels starb. Kiba wusste es nicht.
Er würde es noch früh genug erfahren.
„Was sollen wir jetzt tun?“, kam aus dem Dämmerlicht Toboes unsicherere Frage, und Hanpaku hob mit einer müden Bewegung den Kopf. Seine Augen aber wirkten wachsamer als alles andere.
„Es wird einen anderen Zugang geben“, meinte er nachdenklich und blickte die Gasse hinunter auf die freie Fläche hinaus, wobei er es vermied, in Taiins Richtung zu blicken. Er blickte wieder in die Runde.
„Und zwar unterirdisch.“ Ein leichtes Lächeln stand auf seinen Lefzen.
„Die Kanalisation?“, fragte Hige etwas unsicher, und Hanpaku nickte.
„Kennst du einen Zugang?“
Hige nickte, rührte sich aber nicht und blickte zu Kiba hinüber, der immer noch angeschlagen auf dem Boden lag, den Kopf auf den Pfoten. Er wollte nicht über ihn hinweg entscheiden. „Was meinst du, Kiba?“
Der weiße Wolf hob die Augen. Einen Augenblick schauderte Hige unter seinem Blick, der seltsam leblos, gleichgültig war. Doch schon im nächsten Moment blinzelte Kiba, und als er die Augen wieder öffnete, waren sie klar und golden und voller Ausdruck. Seelenspiegel, dachte Hige. Man musste Kiba stets nur in die Augen blicken und wusste meist schon, woran man war. Der Weiße hob den Kopf.
„Wir müssen weiter“, war alles, was er sagte, und zwang sich auf die Beine, seine Schmerzen vor den anderen verbergend. Zusammen gekrümmt stand Kiba eine Sekunde auf unsicheren Füßen, dann fasste er sich und schob sich an der Mauer entlang die Gasse hinunter, die sie vor kurzem erst entlang gegangen waren. Jetzt fragte der Wolf sich, wofür sie überhaupt hierher gekommen waren. Taiin war tot. Warum nur waren sie nicht vorsichtiger gewesen? Es war so klar gewesen, dass Darcia Fallen aufgestellt hatte. Aber Taiin hatte unbedingt gewollt, dass sie wussten, welche Fallen es waren. Damit sie wussten, was zu tun war. Und nun ... nun würden sie es vielleicht nur Taiin zu verdanken haben, wenn sie einen Weg fanden, den Tod durch die Lichtschwerter zu überlisten.
Bloß wie?
Bedrückt und schweigend folgten die anderen Wölfe Kiba aus der Gasse hinaus auf die breitere Straße, wo Kage an einem Pfeiler angebunden stand. Nur Hanpaku blieb noch einen Atemzug lang stehen und blickte über die Schulter zurück. Eine steile Falte grub sich in seine Stirn. Es war soweit. Das erste Blut war geflossen. Und er konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Der alte Wolf senkte den Kopf und wandte sich dann von Taiins lebloser Gestalt ab, die am anderen Ende der Gasse in einem hellen Lichtkranz lag.
Hanpaku konnte nicht ahnen, dass Taiins Blut nicht das erste war, das vergossen worden war. Asa und die kleine Ohisama, sie waren schon eine ganze Sonne zuvor dem Tod zum Opfer gefallen. Aber der Schmerz, den ihm ihr Tod bereiten würde, hatte Hanpaku noch nicht eingeholt.
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BeitragThema: KAPITEL 27   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:39 pm

„Hige.“
Der Wolf wandte sich um und schaute Blue fragend in die Augen. Ein Blick genügte, und er wusste, was in ihr vorging. Er warf den anderen einen kurzen Blick zu, aber sie hatten nichts bemerkt und gingen einfach weiter. Er selbst blieb stehen. „Was ist denn?“ Hige fragte, obwohl er im Grunde schon wusste, was ihre Antwort sein würde.
Blue sah ihn unsicher an, und aus ihren blauen Augen sprach etwas, das an Furcht erinnerte. Es war ein fremder Ausdruck in ihren sonst so selbstsicheren Zügen. Hige senkte den Blick und legte ihr die Hände auf die Schultern, eine etwas hilflose Geste, um ihr Vertrauen zu spenden.
„Blue. Ich hab' dir nicht verschwiegen, dass es gefährlich wird.“
Sie nickte und blickte zur Seite. Ihre Mundwinkel zuckten.
„Das hab ich doch?“ Hige folgte ihrem Blick und fing ihn ein, sodass sie ihn ansehen musste. Wieder nickte sie, diesmal kräftiger. Aber Hige spürte, dass sie nicht überzeugt war. Er hätte es wissen müssen, aber hatte von Anfang an zu viel von ihr verlangt. Blue hatte nicht die Möglichkeit bekommen, sich mit all dem vertraut zu machen. Es war alles zu schnell gegangen. Aber alles lief nun schon so, seit er Kiba getroffen hatte. Und Hige bereitete dies schon keine Gedanken mehr, worüber er vergessen hatte, dass Blue noch nicht so weit war.
Blue ballte eine Hand zur Faust. „Das hast du. Aber ... du kannst auch nicht von mir erwarten, dass ich das ohne weiteres wegstecke.“ Sie starrte ihn an, und das Blau ihrer Iris funkelte. „Gerade ist ein Wolf vor meinen Augen gestorben! Glaubst du vielleicht, das lässt mich kalt?“ Sie steifte seine Hände von ihren Schultern und wandte sich halb ab. Hige sah sie bekümmert an.
„Nein. Und das erwartet auch niemand.“ Etwas hilflos fuhr er sich durch die wirren Haare. „Aber ich weiß, dass wir das richtige tun. Wenn wir es nicht täten, könnte ich nie damit abschließen. Ich will mich nicht mit sowas 'rumschlagen.“
Ein leichtes Lächeln flog über Blues Züge, das Hige mit Erleichterung erfüllte. Er konnte sie nicht bedrückt erleben. Der Wolf nickte. „Ich glaube an ihn. Und ich weiß, dass er Recht hat.“ Er klopfte sich leicht auf seine Brust über dem Herzen. „Auch wenn meine Erinnerung immer noch lückenhaft ist. Dort drin weiß ich es.“
„Aber ich weiß es nicht! Ich weiß nur, was ich fühle. Und nicht mal da bin ich mir sicher.“ Blues Stimme klang verzweifelt.
Hige wandte den Kopf und blickte den anderen hinterher, die schon weitergegangen waren. Aber sie hatten es nicht eilig, das Rudel einzuholen, seine Nase würde die Wölfe überall wiederfinden. Wieder blickte er Blue an.
„Ich habe nicht nachgedacht. Ich dachte wohl, du würdest selbst irgendwie damit zurecht kommen.“ Ein Lächeln legte sich auf seine Züge, das wohl verschmitzt wirken sollte, aber nur betrübt wirkte. „Ich kann dich nicht zurückhalten.“
Blue starrte ihn erschrocken an. „Hige! Wer hat denn gesagt, dass ich gehen würde?“
Der Wolf runzelte die Stirn, schwieg aber. Ein befreites Gefühl wollte ihn durchfluten, aber er ver­suchte, es zu verdrängen. Zu groß war seine Verwirrung.
„Hige ...“ Die Wölfin schüttelte den Kopf, und ein verzweifeltes, aber auch starkes Lächeln er­schien auf ihren Lippen. „Ich werde bei euch bleiben. Bei dir. Aber ich brauche deine Hilfe. Ich weiß so gut wie nichts, nur das, was du mir erzählt hast. Und das ist nicht viel, wenn man nicht einmal weiß, worum es eigentlich geht.“
„Natürlich.“ Ein schiefes Grinsen huschte über Higes Züge. Er nickte und streckte Blue seine Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff, dann aber fest drückte.
„Ich werd' dich beim Wort nehmen.“
„Kommt ihr jetzt?“
Die beiden wandten sich um und sahen Tsume, der hinter den anderen zurückgeblieben war und zu ihnen herüberstarrte. Rasch schlossen sie zu den anderen auf, und gemeinsam huschte das Rudel im Schutz der schattigen Mauern, in denen niemand mehr lebte, in die Richtung, in der Hige einen Ein­gang zur Kanalisation vermutete.

Wolfspfoten flogen über die karge Ebene, panisch, flüchtend, im Takt eines wild fliegenden Herzens voller Furcht. Das unbändige Pochen war alles, was den den jungen Wolf noch antrieb, immer weiter zu rennen. Es war die Furcht vor dem namenlosen Grauen in seinem Nacken. Die Furcht davor, denselben grausamen Tod sterben zu müssen, wenn er es nicht schaffte, rechtzeitig sein Ziel zu erreichen. Die furchtbare Angst, mitansehen zu müssen, wie auch die anderen dahin gerafft wurden, bevor er sie warnen konnte.
Stunden flogen dahin, die Sonne rollte über den erloschenen Himmel, aber er rannte immer weiter. Er musste es schaffen. Schon neigte sich der Stern dem Horizont zu ... Es würde bald Abend werden. Und mit der Dunkelheit kam der Schrecken.
Toboe konnte immer noch nicht glauben, was am Morgen passiert war, so urplötzlich, dass es gar nicht die Gelegenheit gehabt hatte, zu realisieren, was tatsächlich geschah.
Das Blut ... ihr Blut, das den Boden getränkt hatte.
Ihre Schreie, die laut und panisch in seinen Ohren gehallt hatten.
Die roten Augen in dem so unscheinbaren, harmlosen Gesicht, das mit einem Mal aus seinem Schlaf erwacht war.
Lain. Sie hätten es wissen müssen. Hätten wachsamer sein sollen. Aber wer hätte schon ahnen können, dass sich hinter dem harmlosen Menschenmädchen eine Bestie versteckte? Darcia musste ihren Geist beeinflusst haben, als er sie für diese eine Nacht in seiner Gewalt gehabt hatte ... Was auch immer er mit ihr angestellt hatte, an diesem Morgen war sie nicht mehr wiederzuerkennen ge­wesen. Das war nicht mehr Lain gewesen, die sich mit einem Mal erhoben hatte, um zu morden. Das war eine blutgierige Bestie gewesen, ein Schattenwesen in den Händen des Dunklen, das nicht mehr länger Herr seiner eigenen Sinne gewesen war.
Toboe würde es wohl nie wieder vergessen können. Zur reißenden Bestie war sie geworden. Und erst, als Asa tot auf der kalten Erde gelegen hatte, in ihren Armen die schreiende Ohisama, die zu schützen sie nicht mehr vermocht hatte – erst als sie beide tot gewesen waren, da hatte er begriffen. Er war fortgerannt, so schnell er konnte. Weg, bloß weg. Fort von dem grauenhaften Bild ihrer in Panik verrenkten, blutüberströmten Körper ... Fort von der grauenhaften Schnauze in diesem Ge­sicht, das nichts menschliches mehr hatte.
Fort von denen, die er im Stich gelassen hatte.
Die Gestalt des Wolfes wurde immer kleiner, immer unscheinbarer. Bis sie im kargen, endlosen Braun der Einöde verschwand, im tristen Grau des Himmels, bar jeder Hoffnung, unter dem das erste Blut dieses eisig kalten Winters vergossen worden war.
Schneeflocken fielen aus den Höhen, leise und sanft. Im Schein der fahlen Sonne glitzerten sie in den Farben warmen Blutes.

„Da runter?“ Launisch starrte Tsume in das Dunkel des Schachts hinunter, der sich zu seinen Füßen auftat. Hige hatte sich bereits in den Tunnel hineingeschoben und blickte zu den anderen hinauf, die Arme um die Trittleisten geschlungen.
„Das ist der schnellste Weg, da bin ich sicher“, grollte Hige nur und schielte in das Dunkel hinunter, das sich unter seinen Füßen auftat. „Wenn wir da runter gehen, finden wir vielleicht einen Gang, der in das Gewölbe der Fabrik führt.“ Er nickte und machte sich wieder an den Abstieg, während die anderen Wölfe noch etwas unschlüssig um die schmale Öffnung im rissigen Straßenbelag standen. Sie standen in einem düsteren Hinterhof, in dem die Mauern der umliegenden Ruinen kalte Schatten warfen, und hatten endlich einen Zugang zur Kanalisation gefunden, der abseits der belebten Straßen lag.
Schließlich trat Hanpaku vor und sprang mit einem für sein Alter behänden Satz auf die Trittleiter an der gekrümmten Innenwand des Schachts.
„Nun steht nicht so rum. Wir müssen weiter“, erinnerte er das Rudel und verschwand selbst im Dunkel. Seine Gestalt verschwamm mit der feuchten Dunkelheit, die sie unter der Erde erwarten würde. Die anderen schauten sich etwas unwohl in die Augen, bis Blue es den beiden Wölfen nachtat, gefolgt von den anderen.
Mitsuke zögerte einen kurzen Moment und stand schließlich als Letzte in dem toten Hof, die Augen starr auf das Loch vor ihr im Boden gerichtet. Ein gefräßiger Schlund. Die Wölfin schauderte. Sie wusste, dass es gefährlich war. Unvorsichtig. Tödlich. Sie hatte damit nichts zu tun. Wieso rannte sie nicht einfach weg, solange noch Zeit war? Die anderen waren schon vorgegangen, sie würden ihr Verschwinden nicht so schnell bemerken, und wenn, dann mussten sie andere Probleme lösen ... Ihr Pferd stand neben ihr und konnte sie aus dieser verfluchten Stadt tragen, jetzt sofort ...
Mitsuke griff nach Kages Zügeln und wand sie fest um die Sprossen eines zerschlagenen Fensters. Aufmunternd strich sie dem Tier über die weichen Nüstern und blickte ihm in die dunklen Augen. Kages Blick schien sie aufzufordern, nicht noch länger zu zögern, und die Wölfin nickte.
„Wart hier auf mich“, flüsterte sie, und war sich für einen Moment sicher, Kage hätte sie ver­standen. Dann wandte die Wölfin sich um und trat wieder neben den Schacht.
Es war besser, versuchte sie sich einzureden. Oder einfach nur zu spät? Zögernd strich sie sich Strähnen ihres braunen Haares aus der Stirn. Ein Grinsen schlich sich auf Mitsukes Züge, aber ihr war nicht zum Lachen zumute. Nach einem letzten Blick auf die Stute, die ihr fast bedauernd hinterher blickte, sprang die Wölfin mit einem Satz in den Schacht und folgte den anderen in ein ungewisses Wagnis.
Vielleicht folgte sie den anderen auch nur, weil sie noch etwas zu erledigen hatte, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein.
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BeitragThema: KAPITEL 28   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:40 pm

„Wir teilen uns auf“, meinte Kiba und starrte in das Dunkel. Vor ihnen öffneten sich drei bogenähnliche Gänge, die alle in verschiedene Richtungen ausliefen und einander zum Verwechseln ähnlich sahen. Obgleich Kiba nicht wohl bei dem Gedanken war, das Rudel voneinander zu trennen, wusste er doch, dass es die einzige Möglichkeit war, überhaupt einen Zugang zur Halle zu finden. Sie könnten auch stundenlang ein und denselben Gang absuchen und doch nichts entdecken.
Er nickte Blue und Hige zu, die schon im Torbogen zum mittleren Gang standen. „Ihr nehmt den Weg. Hanpaku und ich werden den linken nehmen, und ihr“, er nickte zu Tsume und Mitsuke her­über, die noch neben der Trittleiter standen, „den rechten. Wenn ihr etwas findet, kommt hierher zurück und wartet auf die anderen.“
Sie nickten und verschwanden ohne ein weiteres Wort im Dunkeln, gefolgt von Kiba und Hanpaku. Schließlich standen nur noch Tsume und Mitsuke im fahlen Lichtkegel, der durch den Schacht zu ihnen herabfiel, und starrten sich unschlüssig an. Sie wussten beide nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Auf der einen Seite war da diese gereizte Spannung, der sie bisher stets aus dem Weg gegangen waren, indem sie sich gemieden hatten, aber auf der anderen Seite mussten sie nun zusammen halten. Durch die Gefahr, die ihnen erst durch Taiins Tod bewusst geworden war und in der sie alle schwebten, waren sie dazu gezwungen worden. Andernfalls würden sie es nie schaffen.
Mitsuke nickte kaum merklich und trat dann an Tsume vorbei in den Gang hinein. „Versuchen wir's“, meinte sie nur, blickte sich aber nicht um, ob er ihr folgte. Die Vorstellung, mit dem ver­hassten Wolf in einem Gang eingesperrt zu sein, tief unter der Erde, wo sie nirgendwohin aus­weichen konnte, gefiel ihr nicht.
Einige Augenblicke blieb Tsume im Schein des Tageslichts stehen, doch dann stieß er sich von der kalten Kanalmauer ab und folgte ihr in die Tiefen des unterirdischen Systems. Sie hatte Recht. Sie mussten es versuchen.
Schon bald ging den Wölfen das Zeitgefühl verloren. Stumm wateten sie durch die verschmutzten Abflüsse, die ihnen stellenweise bis zum Knöchel schwabbten, immer auf der Suche nach verbor­genen Türen oder Luken in den düsteren, dreckverschmierten Bogengängen.

Hige presste sich einen Ärmel vors Gesicht und versuchte, durch den dünnen Stoff möglichst nicht zu atmen, aber trotzdem drang der Geruch nach verrottendem, feuchten Abfall in seine Nase. Ange­ekelt verzog der Wolf das Gesicht und schielte unwohl zur Decke des Ganges hinauf, von der dunkle, undefinierbare Fetzen herabhingen und sanft im schwachen Wind schaukelten, der durch die Kanäle pfiff. Seine Schuhe hatten sich bereits bis zur letzten Faser mit kaltem, öligem Wasser vollgesogen, das langsam auch seine Hosenbeine durchnässte. Hige schüttelte sich. Neidvoll warf er Blue einen Blick zu, die in ihren hohen Stiefeln mühelos durch den Unrat watete. Sie spürte seinen Blick und musste bei seinem gequälten Gesicht matt grinsen.
„Wie lange wollen wir eigentlich noch suchen?“, fragte sie, mehr zu sich selbst als zu Hige, und blieb plötzlich stehen. Vor ihnen gabelte sich der Weg. Unschlüssig verharrten die beiden Wölfe und blickten sich fragend an.
„Vielleicht haben die anderen schon was gefunden und warten nur auf uns“, überlegte Hige, obwohl er selber nicht daran glaubte. Sie hätten wissen müssen, wie weit vernetzt das Kanalsystem unter der Stadt war. Sie konnten hier unten eigentlich unmöglich etwas finden ... Und wenn, dann nur durch einen glücklichen Zufall.
Blue zuckte mit den Schultern und stützte die Hände in die Hüften. „Wir können eh nicht weiter ... also lass und zurückgehen. Ich will mich hier nicht verlaufen.“
Hige nickte, erleichterter, als er sich eingestehen wollte, und wandte sich um.
Der Schatten hinter ihm riss seine Kiefer auf und bleckte ihm die blanken Zähne ins Gesicht.

Währenddessen schoben Tsume und Mitsuke sich hintereinander durch das trübe, stinkende Abwasser. Im Abstand von mehreren Metern flackerten Leuchtstoffröhren in kalkweißem Licht durch das unterirdische Dunkel und warfen die beiden Schatten zweier Wölfe an die triefenden Mauern. Ein drückendes Schweigen herrschte zwischen ihnen, seit sie aufgebrochen waren – wie lange dies nun schon her war, konnte keiner von ihnen sagen. Schließlich brach Mitsuke ihr Schweigen, doch sie sah nicht Tsume, sondern ihren eigenen Schatten an der Wand an, als sie sprach.
„Erklär es endlich.“
Tsumes Schritt verlangsamte sich nicht, aber etwas an seiner Haltung, die Art, wie er seine Schultern hielt, verriet Mitsuke, dass ihre Worte ihn getroffen hatten. Sie hatte ihn schon damals so leicht verstanden, ohne Worte ... Heute empfand sie dies als Fluch. Die Wölfin schloss die Augen und wünschte sich, alles vergessen zu können, was damals geschehen war.
Eine Weile schwieg der Graue, und Mitsuke hatte die Hoffnung schon aufgegeben, noch eine Antwort zu bekommen, als er leicht den Kopf wandte. Auch wenn er sie nicht direkt anblickte, so wusste die Wölfin doch, dass Tsume sie aus den Augenwinkeln genau beobachtete, jede noch so kleine Veränderung registrierte.
„Was soll ich erklären?“
Mitsuke runzelte die Stirn. Ihre Stimme verhärtete sich zu Stahl. „Du weißt, was ich meine.“
Tsume fuhr herum, und bei dem gefährlichen Funkeln in seinen Augen wäre sie beinah zurückge­wichen. Der flackernde Lichtschein, der über sein Gesicht tanzte, ließ das Gold seiner Augen noch bedrohlicher erscheinen. Doch sie blieb, wo sie war, und starrte nicht minder feindselig zurück.
„Was? Du weißt es!“
„Wovon soll ich dir erzählen?“, fuhr Tsume sie an. „Von meiner Panik? Von dem Grauen, das ich gesehen habe? Von meiner eigenen Feigheit?“ Seine Stimme klang harsch, aber Mitsuke hörte doch den bitteren Schmerz hinter seinen Worten. Seinen Selbsthass. „Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen, aber ich kann es nicht! Ich kann es einfach nicht!“ Ruckartig wandte er sich ab und starrte dumpf in das trostlose Flackern der Lampen hinein. Seine Gefühle überschlugen sich – ein beklemmendes Gefühl, das Wut in ihm aufsteigen ließ.
„Damals hättest du es gekonnt“, flüsterte Mitsuke, und ihre eigene Stimme klang ihr fremd in den Ohren. Rau. Heiser. Finster. Sie wollte es nicht – aber in diesem Moment flammte der Hass in ihr hoch. Der alte Hass, der sich so tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, dass er irgendwann nicht mehr wehgetan hatte ... Jetzt aber war mit einem Mal alles wieder da, und die alte Wunde wieder aufgebrochen. Das Flackern des farblosen Lichtes verschwamm vor ihren Augen zu einem blassen Lichtschein.
„Nein! Ich konnte es nicht!“ Tsume bleckte sein Gebiss und stieß ein tonloses Fauchen aus. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“

„Hige?“, rief Blue schrill. In ihrer Stimme schwang Panik mit. Langsam wich sie in das Dunkel zurück, dicht gefolgt von Hige, der sich fieberhaft nach einem Fluchtweg umsah – und gefolgt von den düsteren Gestalten, die sich drohend über ihnen auftürmten. Hektisch flog Higes Blick durch den Gang – aber da war nichts ... Vor ihnen nur eine massige, muskelbepackte Mauer aus Klauen und Zähnen, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem Wolfsrudel hatte, hinter ihnen zwei Gänge, in denen sie den Wölfen unmöglich entkommen konnten. Maschinen, schoss es Hige durch den Kopf. Marionetten. Die Wölfe standen unter Darcias Kontrolle. Aber in diesem Moment war er sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich Wölfe waren. Die vielen Toten in der Stadt, schon seit Wochen ... Das konnte kein Zufall sein.
All das ging Hige mit beängstigender Klarheit durch den Kopf, während die Mauer sich immer enger um sie schloss, lautlos, ohne Eile, als wüssten die Schatten genau, dass sie ihnen nicht mehr entkommen konnten. Sie warteten nur noch auf etwas ... Auf einen geeigneten Moment? Darauf, dass ihre Angst den Höhepunkt erreichte? Dass sie einen lautlosen Befehl zum Angriff bekamen?
Higes Lefzen verzog sich zu einem kalten Knurren, das trotz seiner Angst tief und kehlig klang. „Der rechte Gang“, rief er Blue über die Schulter zu, und sprang dann mit einem Satz aus dem tödlichen Halbkreis heraus. Er packte Blue, die wie erstarrt an der Scheidewand zwischen den beiden Gängen lehnte, und riss sie mit sich in die Finsternis. In diesem Gang gab es keine Lichter, alles war in satte, bodenlose Schwärze getaucht. Sie konnten nur blind raten, in welche Richtung sie rannten.
Hinter ihnen stieg ein wütendes Heulen auf und warf sein grausames Echo gegen die kalten Mauern. Sie waren hinter ihnen ...
„Los doch, Blue! Renn!“, schrie Hige seine Verzweiflung in die Schwärze hinein, und alles, was er noch spürte, war ihre Hand in seiner, die sich krampfhaft um seine Finger geschlungen hatte – mit der Kraft der Todesfurcht.

„Ich kann es nicht vergessen!“, bellte Mitsuke ihre Wut gegen die Finsternis, und ihre Worte wurden auf schauerliche Weise verzerrt, dass sie wie klagende Geister in ihren Ohren nachhallten. Geister ihrer Wut und Verzweiflung über Tsumes Schuld, die sie ihm nicht vergeben konnte.
Sie sprang.
Es war ein mörderischer Sprung, mit vorgestreckten Pfoten und entblößten Fängen, und einer Wut, von der sie selbst nicht wusste, woher sie kam. Im letzten bewussten Moment, bevor sich ihre Klauen trafen, schrie alles in ihr danach, auf der Stelle zur Vernunft zu kommen. Sie durften dies nicht tun! Sie mussten zusammenhalten! Es würde auch nicht besser, wenn sie sich gegenseitig bekämpften ... Sie taten war genau das, was Darcia sich erhoffte! Sie durften es einfach nicht ...
Klauen trafen auf Zähne, Fänge auf Krallen. Ein fürchterliches Heulen hallte von den gekrümmten Wänden wieder – ihre eigenen Schreie.
So konnten sie die schnellen Pfoten, die durch das Wasser spritzten, nicht hören, und auch nicht das blutheiße Knurren aus toten Kehlen, als sich die Schatten um die kämpfenden Wölfe scharten.

Blue stolperte, fiel der Länge nach in das eisig kalte, schleimige Wasser. Verzweifelt versuchte sie wieder auf die Beine zu kommen, aber ein stechend heißer Schmerz zuckte ihr durch die Hüfte. Keuchend prallte sie wieder zu Boden, und das schwarze Wasser spritzte in einer Fontäne gegen die Wand.
„Hige!“, schrie sie panisch in das Dunkel. Sie lag auf dem Boden, machtlos, unfähig sich zu rühren. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf eine Antwort.
„Hige!“
Sekunden später wurde es ihr klar ... Es kam keine. Es würde auch nie eine kommen. Die eisige Hand der Furcht schloss sich um ihr Herz. Eine furchtbare Kälte kroch ihr durch die Glieder.
Dann waren sie über ihr, aufgerissene Kiefer, leuchtende Augen bar jeden Lebens, krallenbewehrte, riesige Pranken, in denen der Tod hauste.
Sie schrie. Sie konnte nichts anderes tun, als ihre Panik in das Dunkel hinaus zu brüllen. Aber es kam keine Antwort.
Schwärze schloss sich um sie – wie der feine, lähmende Kokon des Todes. Ihre Schreie ver­stummten.

Mitsuke wurde zur Seite geschleudert. Hart prallte die Wölfin gegen die steinerne Mauer. Blut auf ihrer Schnauze, ihrer Brust, ihren Pfoten. Nicht ihr Blut. Aber es tränkte sich bereits mit ihrem.
Tsumes mörderisches Bellen drang an ihr blutendes Ohren. Es klang nach Wut, nach Verzweiflung – aber auch nach Schmerz. Die Wölfin zwang sich, ihre Augen zu öffnen ... Und erkannte in dem Schatten über ihr Tsume, dessen Kehle zwischen den Kiefern eines schwarzen Kolosses aus Fell und dunkler Wut hing. Blut spritzte gegen die Mauern und benetzte ihre Stirn. Sein Blut. Es war wie ein Dolchstoß.
Mitsuke konnte sich nicht rühren. Direkt vor ihr kämpfte der Graue zwischen mordenden Kiefern, die ihm den Hals zerfetzten, mit dem Tod, scharrte verzweifelt mit den Pfoten durch die Luft, durch das dichte Fell seines Gegners, kratzte um sich ... Aber seine Bewegungen wurden schon langsamer, fahriger, und ein tonloses Keuchen drang aus seiner blutüberströmten Kehle.
Ihre Augen trafen sich. Grau und Gold.
Szenen blitzten vor ihr auf, Bilder, Erinnerungen. Er hatte sie aus dem Labor gerettet, als sie zu ersticken drohte. In der Stadt, als Darcias Schergen Lain geraubt hatten. In der Fabrik, unter einem Grab aus Schutt und Stahl. Und gerade eben, als sich die Schatten auf sie gestürzt hatten. So oft hatte er ihr geholfen, und das, obwohl er zu keinem Zeitpunkt geahnt hatte, wer sie wirklich war. Er hatte sie für tot geglaubt. Dieser Blick in seinen Augen, als er es erkannt hatte ... Seine Schuld war doch beglichen! Warum hatte sie es nicht gesehen, nicht ...
Ein zweiter Schatten bäumte sich über den Wölfen auf, in seinen toten Augen etwas erstaunlich Lebendiges: Mordlust.
Mitsuke sprang vor.
So, wie sie sich noch vor Augenblicken gegen Tsume gestellt hatte, so kämpfte sie nun um sein Leben. Ihre Krallen schlugen sich in erhitzte Muskeln, zerfetzten Sehnen und Fleisch, und in ihrer Raserei merkte sie kaum, wie ihr eigenes Blut in das Kanalwasser spritzte und sich in schauerlichen Wolken mischte. Irgendwann verschwamm alles vor ihren Augen zu Nebel, ertrank in einem blutigen Schleier ... Das letzte, was sie hörte, war Tsumes Stimme, sein heiseres Bellen, aber sie verstand nicht mehr, was er ihr zurief.
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BeitragThema: KAPITEL 28 - Teil 2   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:42 pm

„Was war das?“
Kibas Kopf fuhr herum und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Trübe und trostlos schillerte das Wasser in der Stille. Eine unnatürliche Stille. Für einen Moment war es ihm gewesen, als hätte er Schreie vernommen ... Heulen und Bellen aus Wolfskehlen. Er zog besorgt die Augenbrauen zusammen.
Leise trat Hanpaku neben ihn. Im fahlen, künstlichen Licht des Ganges stachen die Falten seiner ergrauten Züge noch deutlicher hervor als bei Tageslicht, obwohl Kiba zugeben musste, dass dem Wolf sein Alter in keinster Weise zuzusetzen schien. Hanpaku strahlte eine Kraft aus, die Kiba nur bei wenigen Wölfen zuvor gespürt hatte.
„Darcia“, grollte der Graue nur und senkte den Kopf. Kiba starrte ihn an, und eine lähmende Kälte kroch ihm die Glieder hinauf, die ihn an den Boden zu ketten schien. Eisige Stille legte sich über das ölige Wasser.
„Nein“, knurrte Kiba. „Nein.“
Hanpaku hob den Kopf und blickte ihn fast beschwörend an. Eine seltsame Ruhe legte sich über ihn.
„Kiba. Tu jetzt nichts Unüberlegtes! Wir hätten nichts tun können.“
„Das hätten wir gekonnt!“
„Nein!“ Hanpakus Stimme hatte einen dunklen Klang angenommen, der es Kiba unmöglich machte, nicht aufzuhorchen. „Es musste passieren. Es ist nicht unsere Schuld. Es war alles so vorherge­sehen.“
Kibas Augen zogen sich zusammen. Ein dumpfes, betäubendes Gefühl stieg in ihm auf. „Wie meinst du das?“, grollte er, seine Stimme kaum noch ein Flüstern.
„Es ist immer so gewesen. Immer muss jemand im Kampf gegen Darcia sterben, bevor es wirklich beginnen kann.“
„Taiin“, knurrte Kiba, und Hanpaku nickte. „Toboe“, murmelte der Weiße wie in Gedanken. Beim letzten Mal war es Toboe gewesen. Dieses Mal hatte es Taiin zuerst erwischt.
„Wenn das erste Blut geflossen ist, kommt der Tod schnell. Wir hätten nichts verhindern können, Kiba, nichts. Wir konnten nicht vorhersehen, wann es geschehen würde.“
Der weiße Wolf konnte nur noch mit dem Kopf schütteln. „Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr!“ Er wurde laut. „Sie können nicht tot sein!“
„Sag mir, wieso nicht“, entgegnete Hanpaku mit Trauer in der Stimme. Der Jüngere senkte den Kopf und krallte sich die Nägel in die Hand. Er spürte den Schmerz kaum.
„Es kann sein, dass sie entkommen sind, aber ich weiß es nicht. Kiba!“ Der graue Wolf hob die Hand. „Wir müssen weitersuchen. Es hilft doch nichts, wenn du jetzt zurückgehst. Wenn sie noch am Leben sind, werden sie wissen, was zu tun ist. Aber es hilft dir nicht weiter, wenn sie auch dich zu fassen kriegen!“ Den letzten Satz hatte er fast schon hinausgespieen, mit einer Intensität, die Kiba in seiner Stimme noch nie gehört hatte. Sie grenzte fast schon an Wut.
Stumm und voller Entsetzen starrte Kiba dem Älteren in die Augen. Für einen Bruchteil einer Sekunde blitzte in ihnen eine Kälte auf, die ihm einen Schauer über den Rücken trieb.
Rache.

Darcia hob den Kopf. Ein eisiges Lächeln ohne jede Emotion erschien auf seinen blutleeren Lippen.
Sie waren da.
Sie waren ihm in die Falle gelaufen.
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BeitragThema: KAPITEL 29   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:45 pm

Unter Higes flüchtenden Pfoten spritzte das Wasser auf und klatschte eisig kalt gegen seine Läufe. Keuchend ging sein Atem, schwer und blutig. Die Kehle schien dem Wolf vor Schmerzen zu bersten, und ein schier tonnenschwerer Druck presste seine Lungen zwischen den pumpenden Adern zusammen.
Blue.
Seine Pfoten fanden den Weg wie von selbst durch das dämmrige Dunkel. Woher wussten sie, wo­hin sie ihn tragen mussten?
Blue war fort.
Er musste an sich halten, um seinen Schmerz nicht in die Kanäle hinauszuschreien und die Bestien anzulocken, die immer noch dort auf der Lauer liegen, auf ihn warten mussten.
Fort. Fort. Fort. Seine Schritte hallten im Takt seiner leergefegten Gedanken durch die Gänge.
Da sah er einen Lichtschimmer. Am Ende des Ganges. Er tanzte auf den Wänden ...
Er hatte sie verloren. Einfach so. Ihre Hand war ihm entglitten. Sie musste gestürzt sein. Und er hatte ihr nicht mehr helfen können. Sie war einfach in der Dunkelheit verschwunden.
Hige blieb abrupt stehen. Seine Pfoten spritzten Fontänen verdreckten Wassers auf, verräterische Wellen. Dort auf der Mauer lagen zwei Schatten – spitze Schnauzen, schlanke Ohren, kräftige Körper. Wölfe. Aber keine blutrünstigen Schattenkreaturen.
„Kiba“, flüsterte Hige heiser. Erschöpfung übermannte ihn, und seine schweren Pfoten wollten ihm kaum gehorchen. Schlapp watete er auf Füßen, die ihn kaum trugen, auf die beiden Schatten am Ende des Ganges zu. Schwer atmend stützte der Wolf sich an der Mauer ab und schob sich mühsam vorwärts. Zu gerne hätte er nach ihnen gerufen ... Aber er fürchtete, durch jedes unüberlegtes Ge­räusch die Wölfe anzulocken. So blieb er stumm.
Die Schatten verschwanden.
Hige fing an zu laufen, biss sich dabei vor Schmerz auf die Lippen. Auf seiner Flucht hatte er sich den Fuß verstaucht ... Das gereizte Fleisch brannte furchtbar.
Dann stand er am Ende des Ganges und lugt vorsichtig um die Ecke. Dort begann zu seiner Rechten ein anderer Kanal, der schon nach zwei, drei Metern in endloser Schwärze verschwand. Ein Schauer rannte Hige den Rücken hinunter. Nichts als Dunkelheit ... Aber wo war dann dieser Lichtschein hergekommen, den er eben noch gesehen hatte? Und die Schatten der beiden Wölfe? Schatten fielen nicht ohne Licht ...
Zitternd sank Hige zu Boden, in den feuchten Unrat, aber es war ihm egal. Fast spürte er die Kälte nicht, die ihm feucht und klamm die Kleidung durchnässte. Gleichgültigkeit überdeckte seine Furcht vor Schatten, die ohne Licht auftauchten und wieder verschwanden, seine Angst vor untoten Wölfen, die durch das System unter der Erde wüteten. Spülte seine Gedanken hinfort, den Strom entlang in die Dunkelheit hinunter, und machte einer beängstigenden Ruhe Platz.
Er hatte Blue verloren. Ob sie noch lebte oder schon tot war ... Ihretwillen hoffte er, dass sie es bereits hinter sich hatte, dieses namenlose Grauen, das ihm noch bevorstand. Aber es konnte ihm egal sein. Mit Blue war etwas in ihm gestorben. Sein Lebenswille vielleicht. Sein Antrieb, der Wille, weiter zu kämpfen. Er wusste es selbst nicht. Sie war die Einzige gewesen, die ihn noch an dieses andere Leben gekettet hatte, an das er sich immer noch nur bruchstückhaft erinnern konnte. Kiba hatte ihm dieses Gefühl auch gegeben ... Aber auf eine Weise, die an Blue nicht herankam. Immerhin hatte sie ihm trotz seiner Zweifel das Gefühl gegeben, das Richtige zu tun. Nun war er mit diesen Zweifeln allein.
Hige vergrub seinen Kopf in den Armen und schloss die Augen. Dunkelheit umspann ihn mit schlanken, weichen Fingern. Irgendwann versank er in dumpfer, traumloser Leere.

Fassungslos starrte Kiba auf die Stelle, an der eben noch der Durchgang zu dem Kanal gewesen war, in dem sie nun standen. Dieser Gang unterschied sich nicht von allen anderen, die sie zuvor ge­sehen hatten – mit einem Unterschied: er hatte keinen Zugang. Wo hinter ihnen gerade noch der Bogen zu den anderen Kanälen im flackernden Licht zu erkennen gewesen war, erhob sich nun eine finstere, triefende Mauer, die zu stabil und massiv aussah, als dass Kibas Augen sich täuschen könnten. Verwirrt knurrte der weiße Wolf. Es schien, als wäre der Durchgang nie dagewesen, als hätte an dieser Stelle nie etwas anderes als diese unüberwindbare Mauer gestanden.
„Darcia“, war alles, was Hanpaku dazu sagte. Schon hatte sich der alte Wolf von dem plötzlich auf­getauchten Hindernis abgewandt, während Kiba immer noch dicht vor den aufgetürmten Steinen stand und zunehmend zornig versuchte, Löcher in die Mauer zu starren. Aufgebracht schlug der Wolf seine geballte Faust gegen die steinerne Wand, ohne dass etwas passierte. Die Mauer blieb, wo sie war, und Kibas Hand fing an zu schmerzen.
Frustriert wandte der Wolf sich ab und beeilte sich, Hanpaku wieder einzuholen. Der alte Wolf hatte inzwischen einen ziemlichen Vorsprung und verschwamm bereits mit der aufflackernden Finsternis des Ganges. Als Kiba wieder zu ihm aufschloss, blickte Hanpaku ihn zweifelnd an.
„Was sollte das denn werden?“, brummte er mit leisem Spott in der Stimme. Kiba verzog nur das Gesicht und schwieg, während sie durch das Wasser, das ihnen in diesem Gang bereits bis zu den Waden stand, den Kanal entlang liefen. Leises Plätschern hallte von den dunklen Wänden wider, über die die Lichtreflexionen des Wassers sprangen.
„Darcia kontrolliert nicht nur sein Rudel, sondern auch dieses System“, murmelte Hanpaku, mehr zu sich selbst als zu Kiba, der nur wortlos neben ihm herlief. „Bleib lieber wachsam und halt dich nicht mit Mauern auf. Die sind noch harmlos.“
Kiba antwortete nicht darauf, vergrub nur die Hände in den Taschen seiner Jacke. Dann aber wandte er den Kopf und blickte Hanpaku nachdenklich an.
„Wozu denn das alles?“, fragte er, Trauer in der Stimme. Seine Wut war mit einem Mal verflogen, und nun verspürte der Wolf nichts als eine große, bedrückende Leere, ein Loch in seiner Brust, durch das der kalte Wind der Hoffnungslosigkeit pfiff.
Cheza.
„Wieso können wir Wölfe nicht einfach so leben, wie wir es sollten? Wie es unserer Natur entspricht?“
Hanpaku schwieg bedrückt, aber Kiba schnaubte nur. „Stattdessen leben wir in Städten, hausen unter Menschen, müssen aussehen wie sie, uns verhalten wie sie ...“ Kraftlos sackten seine Schultern herab, als hätte ihn mit einem Mal jegliche Kraft verlassen. Der weiße Wolf schüttelte den Kopf. „Dabei waren sie es, die uns beinah ausgerottet hätten.“
Dann spürte er Hanpakus Blick auf sich. Ruhig und beobachtend, mit einer eigenartigen Kraft, die Kibas Herzschlag beruhigte. Irritiert blickte der Wolf auf.
„Du ahnst nicht, wie oft ich mir diese Fragen gestellt habe“, flüsterte die Stimme des grauen Wolfes durch das Dämmerlicht. „Immer, wenn ein weiterer aus meinem Rudel fiel ... wenn ich einen neuen Tod miterleben musste.“ Seine ruhige, unerschütterliche Haltung geriet ins Wanken, die Wolfsaugen zuckten fahrig über das glitzernde Wasser. „Ich wollte es nicht begreifen. Nein“, korrigierte er sich mit einem bitteren Lächeln, „man kann es einfach nicht begreifen. Es geht nicht. Es ist wie ... wie ein Naturgesetz. Wer begreift denn die Regeln der Natur? Wir verstehen sie nicht, aber wir richten uns nach ihnen, unser ganzes Wolfsleben lang.“
„Aber wieso wir? Wieso Wölfe?“
Hanpaku stieß ein raues Lachen aus, dessen Freudlosigkeit an den Mauern verklang. „Du meinst, wieso nicht die Raben? Oder die Katzen? Oder die Menschen selbst?“
Kiba zuckte bei dem harschen Spott in seiner Stimme zusammen. Ein warnendes Knurren drang aus seiner Kehle, verhallte aber sofort, als Hanpaku ihn anstarrte.
„Nein. Ich weiß, was du meinst“, grollte er. „Und ich kann es nicht erklären. Kiba.“ Er zögerte für einen Moment, schien nach Worten zu ringen. „Für solche Gedanken wird bald keine Zeit mehr sein.“
Kiba nickte; er verstand, worauf der Wolf hinauswollte. „Ich weiß“, murmelte er. Einen Atemzug später blickte er wieder auf, neues Leben in den Augen. „Für Cheza?“, grollte er und ballte die Hand zur Faust. Hanpaku lächelte schwach, als er den Trotz in den Augen des Jüngeren laß. Er erinnerte ihn so sehr an sich selbst.
„Für die Blume. Und für die Toten.“
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BeitragThema: KAPITEL 29 - Teil 2   Wolf's Rain 2 - Seite 2 EmptyMo Jan 05, 2009 8:46 pm

Währenddessen irrte Toboe planlos durch die Häuserschluchten der Stadt, durch überfüllte Straßen­züge und Bogengänge ausgestorbener Gassen. Allmählich wurde er unruhig – die blasse Sonne war zwar unter der Kuppel nicht zu erkennen, aber Toboes Zeitgefühl schrie in ihm, dass es schon weit über Mittag sein musste. Den ganzen Vormittag über war er durch die Straßen gerannt, immer auf der Suche nach einem Geruch, einer Duftspur in der trockenen Luft, die ihm den Weg zum Rudel weisen könnten ... Aber da war nichts. Nirgendwo schien je ein Wolf seine Pfoten aufgesetzt zu haben. Toboe hätte aufheulen können. Aus seiner Verzweiflung wurde immer schneller Panik. Überall nur Menschen, bellende Hunde, schemenhafte Krähen am falschen Himmel, und über allem der allgegenwärtige Lärm brüllender Motoren, vermischt mit dem Gestank nach Fäulnis, Staub und Benzin.
Erschöpft ließ sich Toboe an einer Mauer in einem dunklen Hinterhof zu Boden sinken. Seine Beine zitterten, die Lunge brannte durch den Staub der Straßen und von seiner panischen Flucht aus den Ebenen. Der junge Wolf vergrub den Kopf in seinen Händen und kauerte sich im Schutz der Mauer zusammen. Er konnte nicht mehr weiter. Es war sinnlos, noch weiter zu suchen. Stundenlang war er durch diese Stadt gejagt und hatte doch nichts gefunden. Nicht den kleinsten Hinweis darauf, wo die anderen sein könnten, was mit ihnen passiert war. Immer nur Menschen, Menschen ... Fremde Gesichter, die nie eine Regung zeigten. Ein Schauer rann ihm den Rücken entlang, wenn er daran dachte, welcher Gefahr das Rudel ausgesetzt war ... Er hatte gesehen, was mit Asa und der kleinen Ohisama passiert war. Wenn Darcia es geschafft hatte, Lain zu seinen Zwecken zu missbrauchen, zu was war er dann noch fähig?
Die Vorstellung, dass auch die anderen Opfer dieser Gefahr werden könnten, ohne dass seine Warnung sie rechtzeitig erreichen würde, erfüllte Toboe mit Angst – und Scham. Angst vor einem grausamen Tod, und Scham über sein Versagen, seine Machtlosigkeit angesichts dieser tödlichen Macht, die er nicht in Worte fassen konnte. Die anderen waren um so vieles mutiger als er ... Ohne zu zögern waren sie Kiba gefolgt, ohne dass auch nur einer von ihnen gewusst hätte, was sie in der Stadt erwarten würde. Tsume hatte Recht gehabt ... Er hatte einfach nur Angst. Angst vor dem Unbekannten, der Bedrohung, dem Tod – Angst vor dem eigenen Mut, der ihn unweigerlich ins Verderben führen würde, könnte er denn von sich behaupten, er wäre mutig.
Aber er war es nicht. Er war unfähig und schwach. Feige. Warum auch immer Kiba ihn überhaupt wieder in seinem Rudel aufgenommen hatte. Woher auch immer er die Kraft genommen hatte, ihm zu folgen.
Wie Toboe so im Schatten saß und in Verzweiflung und Selbstmitleid versank, das dumpfe Gurren der Tauben in den Ohren, drang plötzlich ein anderes Geräusch zu ihm durch, leise, aber fordernd. Es passte nicht hierher.
Das Wiehern eines Pferdes.
Irritiert hob Toboe den Kopf und erkannte erst jetzt in den verschwommenen Schattenspielen des Hofes die dunkle Gestalt des Tieres. Er blinzelte überrascht, sprang dann aber rasch auf die Beine und war mit wenigen Schritten neben der alten Stute.
„Kage“, murmelte der Wolf und fuhr ihr gedankenverloren über die dumpf glänzende Mähne. Sein Blick war weniger auf das Tier, sondern mehr auf den Hof gerichtet, den er nun zum ersten Mal richtig wahrnahm. Dieses Loch im Boden ... Der Zugang zu einem Schacht, wie ihm nun klar wurde. Scharf sog der Wolf die staubige Luft ein, und sein Herz tat einen schmerzhaften Sprung. Die Furcht kroch in seine Glieder zurück, langsam und schleichend und mit eisig kalten Fingern. Dort unten mussten sie sein. Aber warum hatte er sie dann nicht riechen können? Immer noch lag kein noch so feiner Geruch in der Luft, obwohl das Rudel hier gewesen war und eigentlich der ganze Hof nach ihnen riechen müsste. Die Frage ging in seinem Herzklopfen unter, als er an den Rand des Schachts trat. Kein Laut drang zu ihm herauf. Nur Kages unruhiges Schnauben hallte in seinen Ohren, viel zu laut, wie Toboe fand. Der Lärm der Stadt ging in seiner Furcht unter und wurde zu einem leisen Rauschen im Hintergrund.
Dies war seine Gelegenheit, sich vor den anderen zu beweisen. Ihnen zu zeigen, dass er nicht der furchtsame Jungwolf war, für den sie ihn alle halten mussten, besonders Tsume. Es schmerzte, dass sie so von ihm dachten. Sie hatten es niemals ausgesprochen und ihm seine Angst auch nie zum Vorwurf gemacht, aber insgeheim wusste Toboe, was sie über ihn dachten. Jedenfalls bildete er sich das ein.
Der junge Wolf zauderte. Alles in ihm schrie danach, fortzurennen, abzuhauen, solange es noch möglich war – um nicht auch abgeschlachtet zu werden wie Asa ... und Ohisama, die jeden Moment des grausamen Todes der Wölfin hatte mit ansehen müssen, bevor sie selbst an die Reihe ge­kommen war. Toboes Kiefer zitterten bei der grauenvollen Erinnerung. Nein. Es ging nicht darum, ob er nicht denselben Tod sterben würde, sondern ob sie alle auf die diese bestialische Weise umkommen würden oder nicht. Aber wenn er nun nichts unternahm, würde genau das unweigerlich passieren. Und soweit durfte es nicht kommen.
Einen letzten Blick warf er Kage noch zu, dann schloss Toboe zitternd die Augen und setzte einen Fuß auf die erste Sprosse der Leiter, die in das Dunkel hinabführte.

Langsam öffnete Mitsuke die Augen – und kniff sie sofort wieder zusammen, als ihr ein beißender Schmerz durch die Stirn schoss. Ein leises Wimmern entfuhr ihr durch die rissigen Lippen und ver­hallte in einer unheimlichen Stille. Mühsam quälte die Wölfin ihre Augenlider auseinander und blinzelte in ein gleißendes Licht hinein, das sich aggressiv in ihre brennende Iris fraß. Mitsuke senkte den Kopf, aber das beängstigend helle Gleißen tobte noch vor ihrem inneren Auge. Unend­lich vorsichtig hob sie ihre Lider wieder an, ihre Neugierde war der bangen Ahnung zum Trotz zu groß. Die Augen der Wölfin waren nach dem dämmrigen Licht in den Kanälen noch nicht wieder an Helligkeit gewöhnt, aber allmählich tauchten aus dem gestaltlosen Weiß Konturen auf, schemen­hafte Umrisse, eine schwarze, bedrohliche Masse, die sich über ihr auftürmte, und über allem dieses überwältigende Leuchten, das ihr immer noch die Sinne verschleierte. Wo kam dieses Licht her?
Neben ihr regte sich etwas. Im Schatten lag eine Gestalt. Zuerst wollte Mitsuke erschreckt auf­springen, aber kaum hatte sie sich an der Wand in ihrem Rücken hochgewunden, wurde sie auch schon wieder zurück gerissen. Ein harter, eisig kalter Ruck ging durch ihre Handgelenke und warf sie zu Boden. Ketten. Verzweifelt zerrte sie an den eisernen Fesseln, aber es war sinnlos. Die Ver­schlüsse gruben sich nur schmerzhaft in ihr Fleisch, rührten sich aber keinen Zentimeter. Erschöpft gab Mitsuke nach. Sie war immer noch wie erschlagen von dem ungleichen Kampf gegen die Schattenwölfe, den sie verloren hatten ...
Mitsuke schreckte auf – und bereute es sofort. Eine klaffende Wunde in ihrer Hüfte. Sie biss die Kiefer aufeinander und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Der Kampf! Was war mit ihnen passiert, und wo waren sie überhaupt?
Jetzt erst erkannte die Wölfin in dem Schatten neben ihr Tsume, der halb gegen die Mauer gelehnt, halb auf dem Boden lag. Auch um seine Handgelenke wanden sich eherne Fesseln, und die Lederjacke des Wolfs war an der Seite über dem Brustkorb zerfetzt und blutgetränkt. Sein Atem ging rasselnd, und als Mitsukes Blick über seinen Hals glitt, wurde ihr klar, warum. Zitternd wandte sie den Blick von dem grauenhaften Anblick seiner blutverkrusteten Kehle ab. Der Graue war immer noch bewusstlos, und sie war seinetwegen froh darüber.
Schuldgefühle übermannten sie bei seinem Anblick, von denen sie gedacht hatte, sie wären tot. Hätten sie nicht miteinander gekämpft – hätte sie nicht die Beherrschung verloren – wären sie den Wölfen sicher entkommen, redete Mitsuke sich voller Gram ein. Wie hatte sie ihn nur attackieren können ... Wo war dieser plötzliche, blinde Zorn hergekommen? Trotz ihrer Wut und Verbitterung war sich Mitsuke doch sicher gewesen, Tsume nie angreifen zu können. Als sie es dann doch getan hatte, war sie nicht selbst gewesen. Als hätte etwas in ihr die Kontrolle übernommen ... oder jemand. Sie schauderte. Konnte das möglich sein? Dass da etwas in ihr war, das in diesem Moment ihren Verstand übernommen hatte?
Inzwischen hatten sich Mitsukes Augen an die Helligkeit gewöhnt, sodass sie endlich erkennen konnte, wo sie sich befanden. Vorerst verdrängte sie die Fragen, die sich in ihr angesammelt hatten und richtete ihren Blick auf das Licht.
Der Anblick war vollkommen anders, als sie ihn erwartet hatte.
Vor und über ihnen erstreckte sich der Hohlraum einer riesigen Kuppel, deren Boden auch hier mit seichtem, knöchelhohem Wasser überschwemmt war. Fünf Kanäle gingen von der Kuppel aus und verschwanden bald in tiefster Finsternis. Sie selbst kauerten auf einem erhöhten Podest, einer Art steinernen Stufe, die vor der Mauer aus dem Wasser herausragte, sodass sie das Wasser nicht er­reichen konnte.
Mitsukes Blick folgte den Strahlen des hellen Lichts. Als sie den Kopf in den Nacken legte und zur gekrümmten Decke der Kuppel hinaufblickte, musste sie blinzeln. Die Helligkeit war überwältigend und unnatürlich. Über ihnen klaffte ein riesiges, kreisrundes Loch in der Decke, durch das Licht von der Oberfläche hereinfiel. Aber etwas war falsch ... Mitsuke brauchte einen Augenblick, bis sie be­griff. Es war zu hell. Zu strahlend. So leuchtend, in einer Farbe, die sie ganz trunken machte, je länger sie in das Gleißen starrte. Das war kein Tageslicht. Dieser Farbton – so strahlend weiß, und dabei doch betörend zart, fast sanft und mit jedem weiteren Atemzug immer einschläfernder, be­ruhigender ... Eine warme Woge schwappte über ihr Bewusstsein, einen Augenblick nur, dann riss sie eine Stimme aus ihrer Benommenheit.
„Nicht.“
Mitsuke riss sich von dem fesselnden Anblick los und wandte den Kopf. Überrascht sog sie die feuchte Luft ein. Tsume war wieder bei Bewusstsein, und sie wusste nicht, ob sie darüber erleichtert sein sollte ... oder nicht. Sie wagte nicht, diesen Gedanken fortzuführen.
Mitsuke antwortete nicht, musterte ihn nur stumm. Er hielt seine Augen geschlossen, den Kopf kraftlos gegen die Mauer gelehnt, und schien auf etwas zu lauschen. Oder zu warten. Der Blutfluss an seiner Kehle war zum Stillstand gekommen, und nun konnte Mitsuke erkennen, dass der Biss weit weniger gefährlicher war, als sie anfangs gedacht hatte. Das Blut bildete bereits Krusten und trocknete trotz der Feuchtigkeit in der Kuppel rasch.
Mitsuke hütete sich davor, noch einmal zur Decke hinauf zu schauen, um nicht wieder in das bestechende Leuchten hinein gesogen zu werden. Stattdessen blickte sie sich weiter in der Kuppel um.
In der Mitte des überfluteten Kreises erhob sich etwas, dass Mitsuke fast noch mehr Furcht einjagte als das unnatürliche Strahlen: Ein rechteckiges, steinernes Podest erhob aus dem glitzernden Wasser, das über und über mit triefend grünen Algen bewachsen war. Eigentlich war es nur ein grob behauener Block aus schwarz glänzendem Gestein, stumpf schimmernd wie unreiner Obsidian, aber sein Anblick reichte aus, dass Mitsuke sich tiefer in den Schatten presste. Ein steinerner Tisch. Ein Altar. Schaudernd wandte die Wölfin den Blick ab – und erkannte im Dunkeln etwas, das ihr den Atem stocken ließ. Die Schrecken waren noch nicht vorbei.
Auf einem anderen Podest, einem von insgesamt fünf, die sich aus der Wand zwischen den Gängen schoben, lag eine schmale Gestalt auf der Seite, die eine Hand kraftlos im Wasser hängend. Der dunkle Mantel war an einigen Stellen zerrissen, doch sonst schien die Wölfin auf der Stufe unver­letzt zu sein. Es war Blue. Also war auch sie den Schattenwölfen in die Falle gelaufen. Aber wo war dann Hige? Hatte er es vielleicht noch geschafft, zu fliehen? Und was war mit Kiba und Hanpaku? Sie konnte nur hoffen, dass ihnen die Flucht noch rechtzeitig gelungen war.
Einer plötzlichen Eingebung folgend wanderte ihr Blick weiter in das Dunkel des Kanals, der links neben Blue aus der Wand brach. Wäre es ihr möglich gewesen, wäre sie nun noch weiter in das Dunkel der klammen Mauer zurückgewichen, aber so konnte sie sich nur hilflos zusammen kauern und die Augen schließen, in der Hoffnung, so ihre Furcht ausblenden zu können. Aber es wollte ihr nicht gelingen.
Das Dunkel lebte, brodelte. Die Finsternis war belebt durch Schatten, die man nur in der Nacht und in düsteren Träumen finden dürfte. Aber hier waren sie erschreckende Wirklichkeit. Sie waren der Atem der Dunkelheit, der finstere Puls, der ihre Furcht am Leben erhielt und mit ihrer Wut nährte. Noch rührten sie sich nicht, noch beobachteten sie nur ... Beobachteten, warteten und wuchsen. Ihre Angst war ihre Nahrung, gab ihnen Kraft. Aber Mitsuke konnte sie nicht unterdrücken, diese Furcht. Und so konnte sie nur mit ansehen, wie der Pulsschlag ihrer Albträume an Stärke und be­ängstigender Realität gewann.
„Sie werden nicht näher kommen“, flüsterte Tsume neben ihr. „Sie warten schon eine ganze Weile.“
Mitsuke wandte den Kopf und blickte ihn an, wobei sie sich fast schon überwinden musste. Die Augen der Wolfs waren halb geöffnet und starrten ins Leere. Sie wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie drängten nach draußen, mussten ihr von der Seele gesprochen werden, aber sie konnte nicht. Die Befürchtung, mit einem einzigen falschen Wort alles nur noch schlimmer zu machen würgte ihr die Stimme ab.
Tsume schien ihren inneren Kampf zu spüren. Ob er begriff, was in ihr vorging oder nicht, wusste Mitsuke nicht, aber er hob den Blick und sah sie stumm an. Obwohl Mitsuke angestrengt in eine andere Richtung starrte, spürte sie diese verstörende Mischung aus Wut und Bedauern, die in seinen Augen lag. Was ging in ihm vor? Am liebsten hätte Mitsuke laut aufgelacht. Es war klar, was er von ihr halten musste. Was konnte sie schon erwarten, nach ihrem Kampf, der so sinnlos und nichtig ge­wesen war, und den sie verschuldete? Er hatte sie gewarnt, hatte versucht, es zu erklären, aber sie hatte nicht hören können. Ihr Bewusstsein war wie ausgelöscht gewesen.
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie, und ihre Worte konnten das Zittern ihrer Stimme nicht verbergen. Sie bekam keine Antwort.
Dann verstummten sie beide wieder. Es gab nichts zu sagen. Und die bedrückende Stille zog sich zu einer kleinen Unendlichkeit hin, in der sie beide in ihrem Schmerz gefangen waren, ohne zu wissen, dass es noch lange nicht der letzte sein würde.
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